Ein Jahr in Andalusien
Michael fort. Als ich frage, wieso sie nicht zurück nach Deutschland gehen, verziehen beide
das Gesicht. „Dort ist es ja noch schlimmer“, sagt Michael schließlich. „Wir müssten von Hartz IV leben. Noch haben wir die Hoffnung nicht aufgegeben,
dass es in Spanien doch klappt. Vielleicht meldet sich ja nach dem Artikel jemand, der einen Job für mich hat, bei der Zeitung.“ Wir trennen uns, und
die beiden gehen wieder an ihren Arbeitsplatz zurück. Auf dem Nachhauseweg muss ich an meinen Galaabend am vergangenen Wochenende denken. Die zwei
Welten liegen so nah beieinander und sind doch meilenweit voneinander entfernt. Ob ich hier meinen Platz finde?
Juni
Jeden Tag ein Miniurlaub am Meer
Plötzlich ist der Hochsommer da. Am Morgen wecken mich die Sonnenstrahlen und lösen alle trüben Zukunftsgedanken in Luft auf. Ich schlüpfe in den
weißen Sommerrock, werfe mir mein lilafarbenes Lieblings-T-Shirt über und laufe zum Markt um die Ecke, um mir die Tageszeitung El País als
Frühstückslektüre, dann noch frisches Brot, Tomaten und Orangen zu kaufen. Ich suche den Stand aus, an dem sich die meisten Hausfrauen anstellen. Es ist
die Garantie dafür, dass die Ware hier am frischesten ist. „¿Quién es la última? Wer ist die Letzte?“, rufe ich. Das ist die Losung für den Einkauf am
Markt. Denn auch wenn sich die Frauen scheinbar ungeordnet um den Stand drängen, halten sie eine strenge Reihenfolge ein.
Wieder zu Hause brühe ich Kaffee auf, reibe die Tomate und toaste das Weißbrot. Ich packe alles auf ein Tablett und balanciere es über die schmale
Holztreppe auf die Dachterrasse. Der Himmel ist so blau, dass meine Augen wehtun. Vor mir sehe ich den einsamen Turm der Kathedrale von Málaga, die
„Manquita“, das Ziegelmeer der Altstadt, dahinter liegt das Meer. Auf den Dachterrassen der umliegenden Häuser flattert bunte Wäsche im
Sommerwind. Heute muss ich meine Recherchen zu Papier bringen, außerdem wollte ich an neuen Themenvorschlägen arbeiten. Aber zuvor studiere ich erst
einmal ausführlich die Zeitung. Es ist Freitag, und Jaime hat geheimnisvoll verkündet, als er frühmorgens aus dem Haus gegangen ist, ich solle für das
Wochenende keine Pläne machen.„Pack den Bikini und die Kamera ein. Wir fahren an einen Strand, der dir bestimmt gefallen wird“, sagt
Jaime, als er am frühen Nachmittag von der Arbeit zurückkommt. Wenn das Quecksilber steigt, wird in Andalusien „intensivo“ gearbeitet, was schlicht
bedeutet, dass der Arbeitstag um einige Stunden verkürzt wird. Während er eine Wassermelone, Milch und einen Ensalada Malagueña –
Orangen-Zwiebel-Kartoffel-Salat mit Bacalao (gesalzenem und getrocknetem Kabeljau), den seine Mutter zubereitet hat; anscheinend hat sie sich mit der
nicht kochenden Schwiegertochter abgefunden – in die Kühlbox steckt, sagt er: „Gerade habe ich Jaime getroffen.“ Jaime ist sein Cousin, alle
zweitgeborenen Jungen aus der Familie seiner Mutter haben denselben Namen bekommen, den des Großvaters; die Erstgeborenen heißen alle wie der Vater. „Er
hat gerade seinen kleinen Sohn Jaime“ – er heißt nach dem Vater – „zur Toreroschule gebracht.“ Ich horche auf. Ein fünfjähriger Junge geht zum
Stierkampfunterricht? Das muss ich sehen. „Ich will deine Pläne nicht durchkreuzen, aber meinst du, wir könnten da vorbeischauen?“, frage ich. „Jetzt?
“ – „Wieso nicht? Wir können von dort ja gleich weiterfahren.“
Jaime hält nicht viel vom Stierkampf. Er gehört zu dem Großteil der jungen Spanier, die das Spektakel für eine grausame Tierquälerei halten. Sein
Cousin, der in einem Dorf aufgewachsen ist, sieht das ganz anders. Für ihn gehört die Corrida de Toros zum andalusischen Leben. Wenn im August in Málaga
Feria ist, besucht er fast jeden Nachmittag die Arena. Seinem Sohn will er die Liebe zum Stierkampf anscheinend in die Wiege legen.
Die Arena Plaza de Toros de la Malagueta liegt fast genau an der Strandpromenade. Der zweihundert Jahre alte Bau im Mudéjar-Stil steht in krassem
Kontrast zu den Hochhäusern, die sich erdenklich nah ans Meer drängen. Wir nehmen auf dem untersten Rang Platz, damit uns die Sonnenicht blendet. Wäre heute ein echter Stierkampf, dann wären diese Sitze unbezahlbar. Denn die Eintrittspreise beim Stierkampf staffeln sich nach dem
Sonneneinfall. Am günstigsten sitzt, wer sich die Sonne auf den Kopf knallen lässt, also eine Sol-Karte kauft. Für die Schattenkarten, die
Sombra-Tickets, muss man am
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