Ein Kreuz in Sibirien
blinzelte ihm zu. Er trug viel zu weite Hosen, die um seine Hüften schlotterten, und Abukow erinnerte sich, daß er ihn gesehen hatte in einem ebenfalls viel zu weiten und langen weißen Kittel.
»Ich weiß nicht, ob ich mich irre«, sagte der Mensch mit großer Freundlichkeit, »aber sind Sie nicht der Genosse, der aus meiner Heimatstadt stammt?«
»So ist es, Genosse Doktor Semlakow .« Abukow gab ihm die Hand. »Sie haben mich bei der Einstellung untersucht.«
»Einer der Freiwilligen, nicht wahr? Sind Sie nicht Lastwagenfahrer? Oh, ich habe noch ein gutes Gedächtnis mit meinen 71 Jahren. Bin seit zehn Jahren in Pension, aber immer holen sie mich wieder, weil sie die jungen Ärzte draußen an der sibirischen Front brauchen.« Er lachte kurz und vergrub die Hände in den Taschen der viel zu weiten Hose. »Ich sage immer Front – und so ist es doch auch. Dieser Kampf um Sibirien ist ein gnadenloser Krieg gegen die Natur. Wie ist das mit Ihnen? Fahren Sie denn nun einen Lastwagen?«
»Ja. Und mitten hinein in die erste Linie. In Surgut bin ich stationiert und beliefere die Straflager …«
»Dann haben Sie ja Sibirien von seiner Rückseite kennengelernt.« Dr. Semlakow nickte zu dem Schaufenster des Modegeschäftes hin: »Was gefällt Ihnen da so? Der Frack? Oder die Frau im Abendkleid?«
»Beides. Ich werde versuchen, Frack und Abendkleid morgen zu kaufen.«
Dr. Semlakow sah Abukow forschend an, aber da er keinen Irrsinn in seinen Augen erkennen konnte, seufzte er nur leise. »Wieviel haben Sie heute schon getrunken?« fragte er.
»Drei Gläschen bloß.« Abukow lachte. »Ich erkläre Ihnen alles, wenn Sie etwas Zeit haben.«
»Wer hat hier keine Zeit?« Dr. Semlakow musterte Abukow wieder. »Warum strolchen Sie hier allein in der Nacht herum wie ein suchender Vater?«
»Kann sein, aus dem gleichen Grund wie Sie, Genosse Doktor. Ich heiße Victor Juwanowitsch Abukow . Haben Sie noch den Schwesternturm in Ihrer Praxis? Dieses dröhnende Fleischgebirge?«
»Sie wird uns alle überleben!« Dr. Semlakow lachte leise. »Sie ist wie eine Batterie. Bei jedem Befehl an die Patienten ›Die Hose runter!‹ lädt sie sich neu auf. – Ja, warum ich hier bin in der Nacht? Ein alter Mann braucht erstens wenig Schlaf, und zum zweiten ist diese Stille in den Straßen wie ein Balsam. Wo sollen wir uns hinsetzen, Victor Juwanowitsch ?«
»Ich kenne Tjumen gar nicht. Machen Sie einen Vorschlag.«
»Im Restaurant › Sibirskaja ‹ ist noch Betrieb. Gehen wir hin.«
Es war nur ein paar Ecken weiter. Sie betraten das ungewöhnlich luxuriöse Lokal mit seinen weiß gedeckten Tischen und Polsterstühlen und entschieden sich für einen Ecktisch, in dessen Nähe niemand saß. Dr. Semlakow bestellte einen Karaffe georgischen Wein und einen Teller Hefegebäck, streckte die Beine von sich und faltete die Hände über dem mageren Bauch.
»Auch ich bin ein Strafgefangener«, sagte er plötzlich. »Vor 43 Jahren wurde ich begnadigt mit der Verpflichtung, in Sibirien zu bleiben. Im Gebiet Tjumen - Tobolsk. Und da bin ich nun geblieben. Das war 1938, und es war etwas ganz Besonderes damals, von Stalin begnadigt zu werden und nicht durch einen Genickschuß zu enden. Aber man brauchte Ärzte in Sibirien, und ich war jung, ein guter Arzt, mit 28 Jahren gerade in dem Alter, in dem man es sich noch zutraut, das jungfräuliche Land wirklich erobern zu können. So durfte ich weiterleben, wurde sogar Beamter, blieb in Tjumen auch den ganzen Krieg über, niemand kümmerte sich um mich. Ich erhielt mein Gehalt, weil ich auf einer Liste stand, aber sonst hatte man mich vergessen. Erst Chruschtschow entdeckte mich wieder, verlieh mir als Stalinopfer eine Medaille und den Titel ›Verdienter Kämpfer für den Frieden und den Aufbau‹ und erhöhte mein Gehalt. – Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich, Victor Juwanowitsch ?«
»Vielleicht, weil ich aus Ihrer Heimatstadt komme«, sagte Abukow zögernd.
»Das wird es sein.« Dr. Semlakow trank einen Schluck Wein, brach ein Hefeteilchen und schob es zwischen seine gelbfarbenen Zähne. Er kaute lange und genüßlich, rollte den Bissen im Mund herum und ächzte etwas, als er ihn endlich hinunterschluckte. »Daran werde ich sterben«, sagte er beiläufig. »Ein Carcinoma oesophagi im unteren Drittel. Wissen Sie, was das ist? Speiseröhrenkrebs! Noch kann ich schlucken, noch ist die Stenose-Symptomatik gering, die Passage ist noch leidlich frei … aber ich kann mir die Wochen ausrechnen, mein
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