Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
Vom Netzwerk:
eifrig.
    »Guten Morgen, Thoko, danke«, antwortete Jill und ging über die nassen Fliesen zum Herd. Sie lief barfuß, wie fast immer, rutschte auf dem schmierigen Boden aus und schlug hart auf. Thoko hockte da, starrte nur blöde, reagierte nicht. Ein paar Stunden später verlor Jill ihr Baby, von dem Martin noch nicht wusste, dass sie es erwartete.
    Nach der Ausschabung, auf die ihr Gynäkologe bestand, verkroch sie sich im Bett, weigerte sich zu essen oder aufzustehen. Ihren Kopf in die Kissen gedrückt, weinte sie um Tommy und ihre Mutter, weinte um das kleine Wesen, das ein Teil von ihr und Martin gewesen war und das sie sich mehr als alles andere auf der Welt gewünscht hatte.
    Martin blieb bei ihr, fast jede Minute, aber alle seine Versuche, ihr zu helfen, konnten sie nicht aus ihrer Verzweiflung reißen. Für Tage balancierte sie gefährlich nahe am Abgrund einer Depression. Am fünften Tag nach der Fehlgeburt öffnete sie morgens ihre verquollenen Augen und entdeckte Angelica an ihrem Bett. »Angelica? Was machst du hier? Lass mich allein.« Sie wollte sich wieder wegdrehen, aber Angelica hinderte sie daran.
    »Jetzt ist es genug, du musst aufstehen. Martin braucht dich. Vergiss nicht, auch er hat sein Kind verloren.« Angelica packte sie mit ihren kräftigen Händen, die einen durchgehenden Gaul bändigen konnten, und zog sie ziemlich unsanft hoch.
    Jill blinzelte ihre Freundin unter Tränen an und schlang ihr die Arme um den Hals. »Es tut so weh«, murmelte sie, ihr Gesicht in die warme Halsgrube gepresst, »so furchtbar weh.«
    »Ich weiß, mein Schatz, aber du wirst damit fertig werden, und ihr werdet bald ein neues Baby haben. So, und nun steh auf, es gibt Frühstück.« Sie klemmte sich ihre blonden Haare hinters Ohr, öffnete Jills Schrank, zog ein paar Kleidungsstücke heraus und warf sie aufs Bett. »Es hat aufgehört zu regnen, wir werden auf der Terrasse sitzen. Ich habe Nelly gesagt, sie soll dir einen extra starken Kaffee machen und frische Brötchen, und ich werde bei dir bleiben, bis du den letzten Bissen geschluckt hast.«
    Martin kam ihr auf dem Weg entgegen. Sie lief in seine Arme, presste sich an ihn. »Es tut mir so Leid, ich wollte es dir an dem Abend sagen, als wir das mit Tommy hörten …«
    Er hielt sie wortlos fest, so fest, dass sie kaum Luft bekam. Dann setzten sie sich zu dritt auf die Terrasse. Angelica machte ihre Drohung wahr, ruhte nicht, bis Jill alles aufgegessen hatte, zwang ihr auch noch den letzten Schluck des übersüßen Kaffees hinein. »Geht’s jetzt besser?«, fragte sie dann.
    Es ging ihr tatsächlich besser, wie sie erstaunt zugab. Zusammen mit Martin besuchte sie dann ihre Mutter und musste zu ihrem Entsetzen entdeckten, dass diese sich in den wenigen Tagen, die sie sie nicht gesehen hatte, aufs Erschreckendste verändert hatte. Die Mutter, die sie kannte, war verschwunden. Nur der Hauch einer Frau war geblieben, gläsern zart und zerbrechlich, die sich in ihr Innerstes zurückgezogen hatte, niemandem Zutritt zu dieser Welt gewährte.
    Wie ein vertrocknetes Blatt, aus dem alles Leben gewichen war, ließ Carlotta sich vom Wind durch ihre Tage treiben. Sie schien kein Ziel mehr zu haben, trug nicht ihre farbenfrohen Kaftane, sondern nur noch schwarze. Erschien sie zu Tisch, forderte sie Nelly auf, Besteck, Teller und Weinglas auf den Platz ihres toten Sohnes zu stellen.
    »Verdammt, er ist tot, Carlotta!«, explodierte Phillip eines Tages in einem verzweifelten Wutanfall und wischte das Besteck vom Tisch. »Entschuldige, Liebling«, murmelte er gleich darauf kläglich, klaubte mit bebenden Händen das Besteck vom Boden auf und legte es wieder auf den Tisch zurück. Dann rief er Thoko und befahl ihr, die Glasscherben aufzufegen.
    Jill war schockiert zusammengefahren, konnte ein Zittern nicht beherrschen. Carlotta dagegen schien ihn kaum wahrzunehmen, doch fortan blieb Tommys Platz am Tisch leer. Sie verfiel in Schweigen, verblasste zu einem durchsichtigen Schatten. Meist lag sie im Liegestuhl unter einem Baum, ihren Blick nach innen gekehrt, verloren in ihrer Welt, unerreichbar, selbst für Jill. Wie ihr Vater fand auch sie keinen Weg mehr zu ihr. Ab und zu sah sie die einsame, schwarz gekleidete Figur in ihrem Korbstuhl unter der blühenden Akazie kauern. Von ihrer Mama, ihrer Freundin, von diesem lebendigen Menschen, existierte allein die Fassade. Nur wenn die Flöte ihre himmlische Stimme erhob, sah Jill den schillernden Schmetterling in der Sonne gaukeln, und

Weitere Kostenlose Bücher