Ein Lied für meine Tochter
können wir ja dahin gehen.«
Ich nicke zu dem Pavillon, und Max tritt heraus. Er ist barfuß, folgt mir aber zu dem Pavillon. Ich setze mich auf die Stufen. »Ich habe das nicht getan«, sage ich.
Max’ Schulter berührt meine. Ich kann die Wärme seiner Haut spüren. »Ich weiß.«
Ich wische mir die Augen ab. »Zuerst habe ich meinen Sohn verloren. Dann habe ich dich verloren. Und jetzt stehe ich kurz davor, auch noch die Embryonen und wahrscheinlich meine Karriere aufgeben zu müssen. Dann habe ich gar nichts mehr.«
»Zoe …«
»Nimm sie«, sage ich. »Nimm die Embryonen. Aber … Aber versprich mir, dass es dann zu Ende ist. Lass nicht zu, dass deine Anwälte Lucy vor Gericht zerren.«
Er senkt den Kopf. Ich weiß nicht, ob er betet, weint oder beides. »Ich gebe dir mein Wort darauf«, sagt er.
»Okay.« Ich reibe mir die Knie und stehe auf. »Okay«, wiederhole ich und gehe entschlossen zu meinem Wagen, obwohl ich Max meinen Namen rufen höre.
Ich ignoriere ihn. Ich steige in mein Auto, fahre rückwärts aus der Einfahrt und halte noch mal neben dem Briefkasten. Obwohl ich sie von hier aus nicht sehen kann, stelle ich mir vor, wie Max ins Foyer geht, Reid und Liddy berichtet, was ich gesagt habe, und wie sie sich dann in den Armen liegen.
Die Sterne fallen vom Himmel und Regen auf mein Autodach. Der Verlust dieser Kinder, die ich nie kennengelernt habe, fühlt sich wie ein Schwert zwischen meinen Rippen an.
Vanessa wartet auf mich, aber ich fahre nicht sofort heim. Stattdessen fahre ich ziellos mal links, mal rechts, bis ich schließlich auf einem Feld am T. F. Green Airport lande, direkt hinter dem Platz, wo nachts die Frachtflugzeuge parken. Ich steige aus, lege mich auf die Motorhaube und starre nach oben und auf die Jets, die so nah über mir hinwegdonnern, dass ich sie fast berühren kann. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Ich kann mich selbst weder denken noch weinen hören, und das ist perfekt.
Deshalb ergibt es auch keinen Sinn, meine Gitarre aus dem Kofferraum zu holen. Es ist dieselbe, auf der ich in der Schule für Lucy gespielt habe. Eigentlich wollte ich sie ihr für eine Weile leihen.
Ich frage mich, was sie wohl wirklich über mich gesagt haben mag. Hat sie versucht, mit dieser Anschuldigung die Distanz zu ihren Eltern zu verringern? Ist sie damit dem Wunsch ihrer Eltern gefolgt? Oder habe ich vielleicht danebengelegen und ihre Bemerkungen falsch verstanden? Vielleicht hat sie ihre Sexualität ja gar nicht infrage gestellt, vielleicht habe ich das nur so interpretiert, weil ich wegen des Prozesses nichts anderes mehr im Kopf hatte. Vielleicht habe ich einfach nur meine Gedanken auf die leere Leinwand projiziert, die Lucy war.
Ich nehme die Gitarre aus dem Koffer und klettere wieder auf die Motorhaube. Meine Finger streicheln den Hals wie einen vertrauten Liebhaber, und mit der rechten Hand zupfe ich die Saiten. Da hängt etwas zwischen den Saiten. Vorsichtig ziehe ich es heraus, bevor es in das Resonanzloch fallen kann.
Es ist die Akkordfolge von ›A Horse with No Name‹. In meiner Handschrift. Ich hatte sie für Lucy aufgeschrieben, als wir den Song geübt haben.
Doch auf der Rückseite sind mit grünem Marker fünf parallele Striche gezogen worden. Notenlinien. Und die oberste Linie wird an zwei Stellen von schrägen Strichen durchbrochen.
Ich weiß nicht, warum Lucy mir diese Nachricht hinterlassen hat, aber genau das ist es. Von allen musikalischen Zeichen, die Lucy hätte wählen können, hat sie sich ausgerechnet für eine Zäsur entschieden.
Ein Bruch in der Musik.
Eine kurze Pause, in der die Zeit nicht gemessen wird.
Und erst, wenn der Dirigent es entscheidet, setzt die Musik wieder ein.
Max
Am nächsten Morgen bei Gericht ist Angela Morettis Gesicht so verkrampft wie eine Krebsschere. »Meine Mandantin zieht ihren Widerspruch zurück, Euer Ehren«, erklärt sie. »Wir bitten darum, dass die Embryonen nicht gemäß den Bestimmungen des Vertrages vernichtet werden. Stattdessen sollen sie an Max Baxter übergehen.«
Applaus erfüllt den Saal. Ben grinst mich an. Und ich habe das Gefühl, als müsse ich mich gleich übergeben.
So fühle ich mich schon seit letzter Nacht. Das begann, als Zoe aus der Einfahrt gerast war. Und als ich dann wieder ins Haus zurückgekehrt bin und wegen des Lichts im Flur habe blinzeln müssen, da habe ich Reid und Liddy gesagt, dass Zoe aufgeben wird.
Reid hat Liddy in die Arme genommen und ist mit ihr durch das Foyer getanzt.
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