Ein unbezaehmbarer Verfuehrer
Ihnen essen." Abigails blaue Augen blickten besorgt.
„Ach was, es ist meine Burg, und hier mache ich die Regeln", erwiderte Sir Alistair. „Und ich möchte, dass du und dein Bruder und eure reizende Mutter mit mir zu Abend esst. Bist du damit einverstanden?"
Abigail runzelte die Stirn und dachte kurz nach, ehe sie antwortete. „Ja, ich glaube schon. Wir haben heute extra den Tisch poliert und die Teppiche ausgeklopft. Sie können sich gar nicht vorstellen, was da für eine Staubwolke rauskam! Nellie musste so stark husten, dass sie fast erstickt wäre."
„Und im Kamin war ein Vogel! ", rief Jamie.
Sir Alistair schaute zum Kamin hinüber. „Welche Farbe?"
„Schwarz, aber sein Bauch war ganz hell. Und schnell war er, hui! ", gab Jamie Auskunft.
Sir Alistair nickte, als Tom mit weiteren Tellern und Besteck zurückkam. „Vermutlich eine Schwalbe. Manchmal nisten sie in Schornsteinen."
Hinter dem Lakaien kamen Meg und Nellie hereingehuscht und brachten das Essen. Meg schien voller Neugier und sah sich verstohlen um, während Nellie so unverhohlen auf Sir Alistairs Gesicht starrte, dass Helen ihr einen tadelnden Blick zuwarf, woraufhin das Mädchen beschämt den Kopf senkte. Außer. der Fleischpastete gab es noch Erbsen, Karotten, frisches Brot und Kompott. Nachdem die Mädchen aufgetischt und sich zurückgezogen hatten, herrschte Schweigen.
Sir Alistair ließ seinen Blick über die Tafel schweifen. Das Essen dampfte, das Silber blitzte, und die Gläser funkelten im Kerzenschein. Und es roch wirklich köstlich. Er hob sein Glas und nickte ihr anerkennend zu. „Mein Respekt, Madam. Sie haben ein wahres Festmahl gezaubert und noch dazu diesen Raum wieder bewohnbar gemacht. Sähe ich es nicht mit eigenen Augen, könnte ich es kaum glauben."
Helen ertappte sich bei einem törichten Lächeln. Aus einem unerfindlichen Grund wärmten seine Wort ihr Herz weit mehr als all die blumigen Komplimente, die sie in Londoner Ballsälen bekommen hatte.
Er trank einen Schluck und beobachtete sie über den Rand seines Glases hinweg. Sie wusste kaum, wohin sie schauen sollte. „Warum?", fragte Jamie.
Das lenkte Sir Alistairs Aufmerksamkeit glücklicherweise auf ihren Sohn und gab Helen eine Verschnaufpause. Am liebsten hätte sie sich Luft zugefächelt.
„Warum was?", fragte der Burgherr.
„Warum nisten Schwalben in Schornsteinen?", wollte Jamie wissen.
„So eine dumme Frage", fand Abigail.
„Für einen Naturforscher gibt es keine dummen Fragen", erwiderte Sir Alistair, und Abigail schaute etwas betreten.
Helen wollte gerade zur Verteidigung ihrer Tochter ansetzen, da ließ Sir Alistair seinen Worten ein Lächeln folgen — kaum mehr als ein leises Zucken der Mundwinkel, aber Abigail schien sichtlich erleichtert, und Helen schwieg.
„Warum wohl nistet eine Schwalbe im Kamin?", überlegte Sir Alistair laut. „Warum dort und nicht irgendwo anders?"
„Weil die Katze sie da nicht fangen kann?", vermutete Abigail. „Weil es warm ist", sagte Jamie.
„Aber hier hat doch seit Jahren kein Feuer mehr gebrannt", wandte Abigail ein.
„Dann weiß ich's auch nicht." Jamie gab auf und spießte stattdessen ein Stück Fleisch auf die Gabel.
Doch Abigail grübelte noch immer. „Warum nistet eine Schwalbe im Kamin? Eigentlich ist das doch eine ziemlich dumme Idee — so schmutzig, wie es da ist."
„Deine Vermutung, dass die Schwalbe ihren Nachwuchs vor der Katze in Sicherheit bringen will, war gar nicht so schlecht", sagte Sir Alistair. „Vielleicht möchte die Schwalbe ja auch dort nisten, wo kein anderer Vogel ihr den Platz streitig macht."
Abigail blickte Sir Alistair konzentriert an. „Das verstehe ich nicht."
„Vögel — überhaupt alle Tiere—brauchen Wasser und Nahrung. So wie wir. Sie brauchen Platz zum Leben und um ihre Jungen aufzuziehen. Wenn ein anderer Vogel in der Nähe ist, insbesondere einer ihrer eigenen Art, kann es zum Streit kommen. Jeder Vogel will sein Revier verteidigen.”
„Aber manche Vögel leben doch gern zusammen", beharrte Abigail. „Spatzen hocken immer in Scharen zusammen und picken gemeinsam nach Futter."
„Immer?", hakte Sir Alistair nach und butterte sich ein Brot. „Nisten sie auch zusammen?"
Abigail zögerte. „Das weiß ich nicht. Ich habe noch nie ein Spatzennest gesehen."
„Noch nie?" Nun sah er Helen an und hob leicht die Brauen. Sie zuckte die Achseln. Wo hätte ihre Tochter denn eines sehen sollen? Sie hatten immer in der Stadt gelebt. Wahrscheinlich bauten
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