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Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)

Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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damals seinen eigenen Weg gegangen war. Man musste nur daran denken, wie Papa reagiert hatte, als sie Peter fand … Kurz schloss Flavia die Augen und erinnerte sich an den Moment, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. O dio beddamatri … Wie heiß es an diesem Tag gewesen war … Und seine blauen Augen, die sich in ihr Herz gebrannt hatten …
    Pferd und Karren rollten weiter. Der Kutscher stellte keine Fragen; zweifellos hatte man ihm das eingeschärft. Das war nichts Ungewöhnliches auf Sizilien.
    Während des Krieges war Papa proenglisch gewesen. Er hatte die Unterdrückten unterstützt, weil er aus tiefstem Herzen hasste, was der Krieg seiner geliebten Insel antat. Er hatte getan, woran er glaubte, sonst hätte er Peter nicht aufgenommen. Aber im Lauf der Jahre hatte sich Papa verändert, daran bestand kein Zweifel. Diese Sache mit Alberto und Enzos zunehmender Einfluss hatten ihn verändert. Und jetzt … Durch ihre Adern floss das gleiche Blut, ja, aber sie konnte nicht bleiben. Das wagte sie nicht. Diesmal war es Rodrigo Sciarra gewesen. Mit wem würde er sie als Nächstes verheiraten wollen? Flavia erschauerte, obwohl ihr in ihrem Mantel und der Wolldecke nicht kalt war. Signor Westerman hatte ihr geraten, viele Kleidungsstücke übereinander zu tragen. »Zieh dich warm an, meine Liebe«, hatte er gesagt. »In England wird es kalt sein.« England …
    Wenn sie blieb, würde Mama versuchen, sie mit vernünftigen Argumenten davon zu überzeugen, Rodrigo zu heiraten. Mama würde es nicht verstehen. Er wird dich gut behandeln, würde sie sagen. Es könnte viel, viel schlimmer kommen . Das war die Philosophie der sizilianischen Frauen, dachte Flavia, ihr Fluch. Deswegen kämpften sie nicht für Veränderung. Willst du dein Leben als alte Jungfer verbringen? Willst du das wirklich?
    Nein! Etwas in Flavias Innerem kreischte das Wort laut heraus. Natürlich nicht. Aber sie wollte auch keinen Mann heiraten, den sie nicht liebte. Sie wollte nicht, dass dieser Mann sie berührte und liebkoste, sie wollte ihm nicht den Haushalt führen und auch nicht seine Kinder bekommen. Das war kein Leben. Das hatte sie so oft zu Santina gesagt. »Das ist doch kein Leben.«
    Die liebe Santina hatte sie tieftraurig angesehen. »Aber Flavia, es gibt nichts anderes«, hatte sie geflüstert.
    Sie irrte sich. Flavia wischte ihre Tränen weg. Es gab einen anderen Weg.
    Als sie einen uralten, mit Gemüse beladenen Karren überholten, der auf dem Weg zum Markt war, sah Flavia, dass sie sich Castellammare näherten. Die Straße fiel in Kurven zu einer breiten Bucht hin ab und führte zum Bahnhof, wo sie den Zug nach Palermo nehmen und dann nach Messina umsteigen würde. Dies war die erste und kürzeste Etappe ihrer Reise, und sie war fast vorbei.
    Flavia wusste, dass Santina sich irrte. Sie musste sich irren, denn Flavia wusste, dass es noch viel, viel mehr gab. Sie hatte einen Blick darauf, eine Ahnung davon erhascht. Mehr als eine Ahnung. Denn es gab Peter, und ihn konnte sie nicht aufgeben.
    Flavia war noch nie mit dem Zug gefahren. Sie hatte versucht, es sich vorzustellen, aber die Größe dieses scheppernden, dampfspuckenden Ungetüms war einfach überwältigend. Sie zählte zehn Waggons. Mamma mia! Signor Westerman hatte ihr erklärt, der Zug werde sie nach Messina bringen und dort werde er auf eine gewaltige Fähre fahren, die sie hinüber nach Italien brachte. Auch das war kaum zu begreifen. »Wir werden dir einen Platz im Schlafwagen reservieren«, hatte er gesagt. »Den wirst du brauchen.«
    Flavia aß das Hefegebäck auf, das sie sich zum Frühstück gekauft hatte. Nur Mut. Sie holte tief Luft und griff nach der zerbeulten Reisetasche, die Signor Westerman ihr geschenkt hatte. Es war so wenig darin, und doch war es alles, was sie jetzt noch besaß. Dann stieg sie in den Zug. Es war, als stürze sie sich in den Rachen eines Löwen.
    Zischend und ratternd umrundete der Zug die Insel bis Palermo. Flavia spähte aus dem Fenster. Man erzählte sich, das Stadtzentrum läge in Trümmern; es gäbe Berge von Schutt und Paläste ohne Dächer, kaum mehr noch als leere Hüllen. Aber sie sah nur den dicht bevölkerten Bahnsteig und noch mehr Menschen, die ein- und ausstiegen. Dann schlossen sich die Türen wieder krachend, es wurde gepfiffen, und sie waren unterwegs nach Messina. So ein Zug war eine beeindruckende Maschine, dachte Flavia. Eine mächtige Kreatur. Sie spürte ihre Kraft, ihre Energie und ihren Rhythmus, während sie

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