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Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)

Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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unaufhaltsam voranrollten.
    Und dann wurde der Zug, genau wie Signor Westerman es vorhergesagt hatte, laut von einem gewaltigen Schiff eingesogen. Jedenfalls kam es Flavia so vor, und sie bekreuzigte sich hastig. Anschließend fuhren sie hinaus aufs Meer. Die Überfahrt dauerte nicht lange, nur dreißig Minuten, denn es waren nur rund fünf Meilen, aber sie konnte ihr Abteil verlassen und an Deck gehen, um frische Luft zu schnappen, die sie dringend brauchte. Es war seltsam, auf einem Schiff und gleichzeitig doch mit einem Zug zu reisen. Aber das war wohl nur eines von vielen eigenartigen Erlebnissen, die ihr noch bevorstanden, dachte Flavia.
    Sie schaute hinab in das weiße, brodelnde Wasser, durch das sich die Eisenbahnfähre ihren Weg bahnte, und sog die Seeluft tief in die Lungen. Der scharfe Wind streifte über ihre Haut, und ihre dunklen Locken flatterten, als sie an der Reling stand. Es war, als werde ihr Leben, ihr altes Leben, einfach davongeweht.
    Die Eisenbahnfähre hieß Scilla . Es war ein beeindruckender Anblick, wie sie majestätisch durch die Straße von Messina tuckerte, und Flavia fühlte sich privilegiert, weil sie das Glück hatte, an Bord sein zu dürfen. Das hatte sie Signor Westerman zu verdanken, denn ohne ihn hätte sie das nicht geschafft. Papa würde toben und schreien, wenn er feststellte, dass sie fort war. Vielleicht wusste er es ja schon? Vielleicht hämmerte er ja in diesem Moment an die Tür der Villa Sirena, um herauszufinden, ob der Signor wusste, wo sie steckte? Aber sie machte sich keine Sorgen. Signor Westerman war ein Mann, der Papa mit ein paar Worten besänftigen konnte. Diese Gabe besaß er.
    Natürlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Eine Heirat mit Rodrigo Sciarra hätte Papas Stellung im Dorf sicher verbessert. Es hätte mehr Privilegien, mehr Lebensmittel und Unterstützung für seine Familie bedeutet. Gott wusste, dass das Leben im Sizilien der Nachkriegszeit nicht einfach war. Jeder brauchte alle Hilfe, die er bekommen konnte. Aber Flavia Farro hatte nicht vor, sich deswegen zu prostituieren. Das konnte sie nicht. »Es tut mir leid, Papa«, flüsterte sie. Obwohl er es ihr vielleicht nicht einmal verübeln würde, dass sie diese Gelegenheit beim Schopf gepackt hatte, so wie er damals mit Hilfe genau desselben Mannes die Chance ergriffen hatte, der Armut zu entfliehen.
    Trotzdem sah sie zur Küste Siziliens, ihrer Insel, zurück und legte die Hand aufs Herz. »Arrivederci« , flüsterte sie. »Lebe wohl.«
    Als sie sich dem Land näherten, wurden die Passagiere aufgerufen, auf ihre Plätze zurückzukehren.
    Sie waren in Villa San Giovanni angekommen. Dies sei der verkehrsreichste Passagierhafen Italiens, erklärte ihr ein Mann, der mit ihr im Abteil saß. Sie hätte nicht mit ihm gesprochen, wenn er nicht von seinem Sohn begleitet worden wäre, einem Jungen von ungefähr zwölf Jahren, der seinen Blick nicht von Flavia losreißen konnte. Flavia betrachtete das geschäftige Treiben um sich herum, die Menschen, die in alle Richtungen eilten. Dieser Ort brodelte nur so vor Aktivität, von Menschen, die redeten und schrien, rannten, sich umarmten, winkten, weinten. Männer in Marineuniform standen herum und schauten wichtig drein, Hafenarbeiter verluden Fracht, Kräne hievten Waren von den Schiffen, Hupen lärmten. Und in der Luft lagen Erwartung und Aufregung, ein Gefühl von Reise und Veränderung.
    Die Hafengebäude zeigten nur wenige Spuren von Krieg oder Vernachlässigung. Ihr Begleiter erwies sich als ergiebige Informationsquelle: »Das Hauptgebäude ist im faschistischen Stil errichtet. In der Abfahrtshalle zeigt ein herrliches Wandgemälde von Cascella, wie der große Mussolini, il Duce , von Landarbeitern in die Höhe gehoben wird. Sie müssen es sehen, meine Liebe, jeder muss es sehen!« Flavia versuchte, Interesse zu zeigen, aber in ihrem Herzen hatte sie mit der Politik abgeschlossen. Was in Sizilien geschah, machte ihr Angst, nicht die Armut, sondern die Unterdrückung, die Korruption, die Dunkelheit. Menschen sind Menschen, dachte sie, auf der ganzen Welt. Manche sind gut und manche böse.
    Die Reise ging weiter. Sie schien kein Ende nehmen zu wollen. Flavia konnte nicht glauben, dass dieser eine ratternde Zug sie bis nach Rom bringen sollte. Doch so war es. In Rom stieg sie in den Schlafwagen nach Paris. Im Grunde bestand die ganze Reise nur aus einem Wechsel von Schlafen und Wachen, dem Krachen und Rattern des Zugs auf Gleisen, die nie zu Ende gingen, und

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