Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
aus Blicken aus dem schmutzigen Zugfenster, zuerst bei Tageslicht und dann in der Dunkelheit, auf eine sich ständig verändernde Landschaft aus Feldern, Hügeln, Dörfern und Städten. Das Pfeifen von Dampfloks, zuknallende Türen, Menschen, die sich verabschiedeten. Niemand verabschiedete sich von Flavia; sie hatte sich noch nie einsamer gefühlt. Gepäckträger mit Karren transportierten Koffer. Ein Bahnhof nach dem anderen, Gleise, die sich wie lange Finger in die Zukunft erstreckten. Ihre Zukunft …
Flavia war erschöpft. Wer hätte gedacht, dass Reisen einen so ermüden konnte? Sie hatte sich Proviant für die Reise eingepackt, gelbes sizilianisches Brot (Mamas Brot, dachte sie und spürte einen Kloß in der Kehle), ein paar späte Trauben von ihrem Stock und Ziegenkäse. Von all dem hatte sie ein wenig geknabbert, wenn ihr Magen knurrte. Sie hatte auch eine Flasche Wasser dabei, an der sie regelmäßig nippte, wenn ihr Hals trocken wurde.
In Paris ging es vom Gare du Bercy zum Gare du Nord . Ein neuer Tag hatte begonnen. Paris … Flavia konnte nicht glauben, dass sie sich in Paris befand. Nicht im Zentrum natürlich, aber trotzdem … Sie zitterte. Hier schien es so viel kälter zu sein. Sie hatte natürlich vom Eiffelturm gehört – wer hatte das nicht? – und wünschte sich glühend, sie könnte ihn besuchen und Paris erkunden, nach London sicher die aufregendste Stadt der Welt. Doch das war nicht möglich. Aber vielleicht würde sie eines Tages zurückkommen, mit Peter.
Sie eilte den Bahnsteig entlang. Die Menschen sahen hier so anders aus. Die Frauen waren schicker und bunter gekleidet. Man spürte zwar noch die graue Monotonie der Nachkriegszeit, aber diese Frauen sahen aus, als hätten sie ein Ziel. Als hätten sie ein Leben, einen anderen Sinn außer ihrem Zuhause. Sie dachte an ihre Mutter und die anderen Frauen im Dorf, ihre schwarzen Kleider und Umschlagtücher, diese Düsternis. Schon jetzt befand sie sich in einer anderen Welt.
Und nun hatte auch sie ein Ziel. Sie atmete bewusst ruhiger und unterdrückte die Angst, die trotz all ihrer guten Vorsätze in ihr aufstieg. Sie durfte nicht an das Schlechte denken, sondern musste sich auf das Gute konzentrieren. Auf die Liebe. Deswegen hatte sie diese Reise unternommen. Aus Liebe. Weil sie wusste, dass sie nie wieder eine Liebe wie diese finden würde. So etwas erlebte man nur einmal im Leben. Das war die Sorgen, die Angst und diese ganze ermüdende Reise wert. Es war ihre Bestimmung.
Sie war nun nach London unterwegs und würde an der Victoria Station aussteigen. Sie würde wieder eine Fähre nehmen müssen, aber dieses Mal musste sie sie zu Fuß betreten; Schlafwagenabteile waren nur für die Passagiere der ersten Klasse vorgesehen. Doch Flavia machte sich nichts daraus. Jetzt wollte sie nur noch ihr Ziel erreichen, England …
40. Kapitel
W ie findest du ihn?«, fragte Brian, der Wirt des Pubs. »Du bist schließlich jung.«
Ginny kniff die Augen zusammen und musterte den Gitarristen genauer. »Er ist ein bisschen alt«, meinte sie. Mindestens vierzig. Und er trug dicke Brillengläser und ein dämliches Dauergrinsen im Gesicht. Charisma war nicht das Wort, das einem spontan zu ihm einfiel.
»Er kann spielen«, sagte Brian und trommelte mit den Fingern auf die Theke. »Und singen.«
»Hmmm.« Ginny behielt sich ihr Urteil noch vor. Ihr war nicht klar gewesen, dass sie in diesem Job Castings durchführen musste. Die Kugel war ein wenig hibbelig. Sie wusste, dass sie etwas störte.
»Aber?«, erkundigte sich Brian.
Der Gitarrist war nahtlos von It’s Not Unusual zu Leaving on a Jet Plane übergegangen. »Und bald bin ich auch weg«, sagte er ins Mikrofon. »Wenn auch nicht mit dem Flugzeug, sondern in einem klapprigen alten Volvo. Haha.«
Voll der Absturz, dachte Ginny. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemanden unter vierzig anspricht«, erklärte sie. »Macht er noch was anderes, als uralte Nummern zu covern?«
Brian schmunzelte. »Du bist eine strenge Kritikerin«, sagte er. »Aber du hast recht.«
»Ich will ein jüngeres Publikum«, hatte er ihr erklärt, als sie heute Abend um sechs zur Arbeit erschienen war. »Ich will, dass dieser Laden dynamisch und aufregend ist. Die angesagteste Location. Der beste Club in der Stadt.«
»Klar.« Vielleicht war Ginny ja zur richtigen Zeit hier aufgeschlagen. Obwohl sie sich des Gedankens nicht erwehren konnte, dass Brian ein bisschen zu ehrgeizig war.
»Ich habe für heute Abend drei
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