Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
gebrochen ist?«
Santina zündete den Gasherd an und stellte die Espressokanne zum Kochen auf die Flamme. »Wir schreiben Briefe«, sagte sie. »Jahre. Wir schreiben Briefe, Flavia und ich.«
Das hatte sich Tess schon gedacht. »Und heute?«, fragte sie.
»No.« Santina schüttelte heftig den Kopf. » No, no. Schon viele Jahre nicht.«
So gern ihre Mutter ihre alte Freundin gehabt haben mochte, Tess wusste, dass sie keinen Kontakt nach Sizilien mehr gewollt hatte. Sie hatte ihre Freundin irgendwann loslassen müssen. »Aber warum?«, fragte Tess. »Warum hat sie Sizilien so sehr gehasst, Santina?« Es konnte doch nicht nur daran gelegen haben, dass ihr Vater sie mit Rodrigo Sciarra verheiraten wollte, oder? Das konnte sie ihm doch kaum übel nehmen.
Santina schüttelte den Kopf. »Sie nicht sagen, nicht zu mir.«
Tess hatte nachgerechnet. Warum hatte es so lange gedauert, bis Flavia nach England gegangen war? Am Krieg allein konnte es nicht gelegen haben. »Meine Mutter war dreiundzwanzig, als sie Sizilien verlassen hat und nach England gegangen ist«, sagte sie. »Es waren also sechs Jahre vergangen, seit sie diesen englischen Piloten, von dem Sie mir erzählt haben, getroffen hatte. Das ist eine lange Zeit.«
Santina holte die winzigen weißen Tassen, Untertassen und Teller aus dem Küchenschrank. Sie zuckte mit den Schultern. »Sie warten«, erklärte sie.
Dann war sie aber sehr geduldig gewesen, dachte Tess. Sie musste ihn wirklich sehr geliebt haben. »Und er hat ihr geholfen, als sie nach England kam?« Sie konnte sich vorstellen, wie viel Angst ein junges, behütetes Mädchen aus Sizilien gehabt haben musste, als es allein nach England kam. Ihre Mutter war sehr tapfer.
Santina schüttelte den Kopf. »No, no« , gab sie zurück. »Signor Westerman aus Villa Sirena. Er ihr helfen. Seine Schwester in London ihr helfen. Flavia kochen für sie, ja!« Sie lachte.
»Aha.« Jetzt wurde alles klarer. Tess nahm die kleine Kaffeetasse und das Gebäck, das Santina ihr reichte. »Grazie.« Ihre Mutter hatte also auf Sizilien auf ihn gewartet, aber er war nicht gekommen. Also hatte sie etwas unternommen. Sie war nach England gegangen, um ihn zu suchen, natürlich. Und Edward Westerman hatte ihr dabei geholfen, so, wie er dafür gesorgt hatte, dass Tess nach Sizilien kam. Sie nippte an ihrem Kaffee. Langsam fügten sich die Puzzleteile zusammen.
»Wahrscheinlich hat sie versucht, den englischen Piloten zu finden, aber das gestaltete sich natürlich wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen«, meinte sie zu Santina.
»Nadel …?« Santina runzelte die Stirn.
»Sie hat ihn wohl nicht gefunden«, erklärte Tess. »Also hat sie ihre Suche aufgegeben und ihn irgendwann vergessen.« Sie trank noch einen Schluck Kaffee – er war aromatisch und wärmte sie – und nahm einen Bissen von dem cornetto , dessen Puderzucker an ihren Lippen kleben blieb. »Und dann hat sie wohl meinen Vater kennengelernt.«
»Ah, no «, entgegnete Santina. Ihre Miene zeigte Mitleid. »Sie ihn finden, mein Kind. Sie diesen Mann nie vergessen.«
»Aber …?« Mehr konnte Tess nicht mehr sagen, denn sie hörte erst, wie die Tür geöffnet wurde, und dann einen italienischen Wortschwall, der Giovannis Eintreffen ankündigte.
Wie angewurzelt blieb er stehen, als er Tess in der Küche sitzen sah. »Sie«, sagte er.
»Was?« Tess war verwirrt, denn Giovanni sah wütend aus.
Er sagte noch etwas auf Italienisch. Tess verstand nur den Namen Tonino. Santinas Blick wanderte zwischen Tess und Giovanni hin und her, während sie ihre Schürze zwischen den Fingern zerknüllte. Was war hier los? Hatte Giovanni das mit Tess und Tonino herausgefunden? Nicht, dass es da viel herauszufinden gegeben hätte. Noch nicht.
»Was?«, wiederholte sie.
Giovanni richtete sich vor ihr auf. »Ich habe Sie gewarnt, Tess«, sagte er. »Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie sich von Tonino Amato fernhalten sollen.«
Weshalb wusste er Bescheid? Tess wurde klar, dass es nur eine Erklärung gab: Tonino musste es ihm gesagt haben. »Das ist Ihr Streit, Giovanni.« Sie versuchte, gleichmütig zu klingen. »Nicht meiner.«
Er kam näher und packte ihren Arm. Ärgerlich presste er die Lippen zusammen, und sein Blick schien sie zu durchbohren. »Da irren Sie sich, Tess«, sagte er. »Ihre Familie hat sogar noch mehr Grund, Amato zu hassen, als meine.«
»Ach, jetzt seien Sie nicht albern«, sagte Tess, aber sie spürte ein ängstliches Flattern in der Magengrube. Wie gut kannte
Weitere Kostenlose Bücher