Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)

Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
Vom Netzwerk:
Großvater zugleich zu sein, aber war das nicht generell ein Ding der Unmöglichkeit?
    »Um sich in ihm wiederzuerkennen?«, meinte Flavia. »Um ihre eigene Identität zu entwickeln? Wahrgenommen zu werden?«
    Lenny schnaubte verächtlich. »Das klingt für mich wie ein Haufen Mist.«
    Was Tess und David anging, hatte er einen blinden Fleck. Aber auch Flavia hatte sich oft gefragt, wie es Ginny beeinflusst haben mochte, einen Vater zu haben, der sich nie für sie interessiert hatte.
    »Trotzdem liegt die Entscheidung bei Ginny und nicht bei uns«, erklärte sie bestimmt. Sie würde niemandem das Recht nehmen, sich gegen sie zu entscheiden, denn das war genau das, was ihr Vater ihr angetan hatte.
    Lenny begegnete ihrem eindringlichen Blick. »Du erzählst es Tess trotzdem besser«, sagte er.
    »Das habe ich schon.«
    »Und was hat sie gesagt?«
    »Nicht viel, noch nicht.« Flavia kannte ihre Tochter. Sie stand noch unter Schock. Und Gott allein wusste, was da unten vor sich ging.
    »Kommt sie jetzt zurück?« Diese Aussicht schien Lenny zu gefallen. Der Gute war eine einfache Seele. Flavia hätte Tess zwar auch am liebsten nach England zurückgeholt, aber zwei Gründe hinderten sie daran. Der eine war, dass Tess offensichtlich noch nicht gefunden hatte, was sie dort suchte, und der zweite war Ginny.
    »Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie. Vielleicht war es eine gute Idee, David eine Chance zu geben. Er war kein schlechter Mensch, er war nur nicht in der Lage gewesen, Verantwortung zu übernehmen. Aber auch er war älter geworden. Sie hatte das Gefühl, dass er ihrer Enkelin ganz guttun würde.
    Flavia schlug ihr Buch auf. Man hätte behaupten können, sizilianische Rezepte seien ungenau. Sie hielten sich selten mit genauen Gewichtsangaben auf, und auch Flavia war es gewöhnt, in den Kategorien von »einige« ( alcun ), »ein wenig« ( un tocco di) oder »viel« ( assai ) zu denken. Das war eine Sache des Instinkts. Und doch handelte es sich dabei, zum Beispiel, was den Einsatz von Basilikum oder Öl oder die Beziehung zwischen einer pasta und ihrer Sauce anging, auf typisch widersprüchliche Art genau um die Präzision, die in der Lage war, aus einem gewöhnlichen Gericht etwas Besonderes zu machen.
    Sie schrieb ihr nächstes Rezept nieder, melanzane parmigiana , das Lieblingsgericht ihrer Enkelin.
    Flavia erinnerte sich noch ganz genau an ihre Fahrt nach Exeter. Sie machte es sich auf ihrem Stuhl bequem und schaute in den Garten hinaus, ohne etwas zu sehen. Alle Einzelheiten der Fahrt zogen vor ihrem inneren Auge vorbei. Sie blätterte an den Anfang ihres Notizbuchs vor und fand die Stelle, an der sie zu schreiben aufgehört hatte. Dann nahm sie den Stift zur Hand.
    Eine Woche später brachte der Zug Flavia nach Exeter. Vor Nervosität saß sie stocksteif und kerzengerade da, umklammerte das Stück Papier mit seiner Adresse, die sie sowieso auswendig wusste, und dachte über die ereignisreiche letzte Woche nach.
    Im Vergleich zu ihrem Zuhause auf Sizilien waren ihre Pflichten wenige und leicht zu erfüllen. Genau wie dort war die Arbeit eine Art Ritual. Zuerst musste sie Feuer machen, damit das Haus warm wurde. Sie hatte exakte Anweisungen, wie die Lagen im Kamin aufzubauen waren. Sie bestanden aus dünn gehacktem Holz, zerdrücktem und mit Paraffin getränktem Papier und Kohlestücken, die obendrauf gelegt wurden. Es war nicht schwer, und das Feuer ging leicht an. Doch man hatte vom frühen Morgen bis zum späten Abend ständig den Geruch des Kohlenrauchs in der Nase. Er war nicht trocken, süß und duftend wie der von Olivenholz, sondern kratzig und schweflig und schien einem bis unter die Haut zu kriechen. Sie musste auch sauber machen; aber vor allem bereitete sie das Essen zu, und dieser Teil ihrer Pflichten machte Flavia die größte Freude, obwohl die Zutaten sehr zu wünschen übrig ließen. Sie war es gewöhnt, mit wenig auszukommen, aber das war hier nicht das Problem. Hier war das Schwierigste die Beschaffung frischer Zutaten.
    Sie hatte auch Freizeit, in der sie mit Signorina Westerman (Bitte, bitte, nennen Sie mich Bea) plauderte, etwas über England lernte und durch die Straßen lief, um ihre neue Umgebung kennenzulernen; »um sich in diesem Land einzugewöhnen«, wie Bea es ausdrückte.
    Es gab viel zu lernen. Flavia sah aus dem schmutzigen Zugfenster auf ebenso rußige Reihen kleiner Häuser mit kleinen Gärten und rechteckigen Parzellen hinaus, auf denen Gemüse wuchs, auf Straßen und Flüsse,

Weitere Kostenlose Bücher