Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Bäume und grüne Felder. Engländer, schloss sie daraus, ordneten Dinge sehr gern ordentlich in Schubladen ein. Und die Engländer waren so ganz anders. Das lag nicht nur an der Sprache und der Währung, mit denen sie nur schwer zurechtkam. Es waren die Gepflogenheiten – was man zu wem sagen durfte, wie man sich zu benehmen hatte.
Sie lehnte sich auf ihrem Sitz zurück, und ein kleines Staubwölkchen erhob sich in die Luft. Sie lernte auch, frei zu sein. Ja, hier konnte man sich schon ohne Einschränkungen bewegen. Aber Bea hatte sie gewarnt. »Es gibt Orte, an die man einfach nicht geht, die unpassend für ein junges Mädchen sind; außerdem gibt es Menschen, mit denen man nicht reden darf.« Den meisten, wenn man Bea glauben wollte. »Sogar in England gibt es noch Regeln, die man befolgen muss.« Daher hatte Flavia sich bisher nicht weit über West Dulwich hinausgewagt. Aber sie hatte schon den Lumpensammler gesehen und seinen merkwürdigen Ruf gehört, sie hatte mit dem Metzgerjungen gesprochen, dessen Fahrrad vorn ein kleineres Rad hatte, damit er seine Blechkiste mit Fleisch daraufstellen konnte, und sie hatte sich schon daran gewöhnt, jeden Morgen von dem beruhigenden Klappern von Pferdehufen und dem Klirren von Glas geweckt zu werden, wenn die Milch an die Häuser im Viertel ausgeliefert wurde, das wirklich sehr vornehm zu sein schien.
Flavia schaukelte auf ihrem Sitz im Rhythmus des Zugs hin und her. Das Fenster war geschlossen, aber trotzdem zog es. Der Zug fauchte und schaukelte, er stank nach Qualm, Kohle und heißem Öl. Doch trotz allem war dieser Zug für Flavia eine Kutsche ins Paradies, denn er trug sie dem Ort ihrer Sehnsucht entgegen.
Das Schlimmste an England war das Wetter. Es war immer kühl, und nachts wickelte sie sich oft in ihren Mantel, um nicht zu frieren. Die Sonne war die ganze Woche nicht herausgekommen, und das war, wie Bea sagte, im November ziemlich normal. Madonna, steh uns bei … Aber Peter war hier. Peter, Peter, Peter, es war, als ob die stampfenden Räder seinen Namen widerhallten.
»Was haben Sie denn genau vor, meine Liebe?«, hatte Bea gefragt. Sie war dafür, die Familie anzurufen, falls sie die Nummer herausbekamen, falls sie überhaupt Telefon hatten … Aber Flavia war damit nicht einverstanden.
»Ich will ihn von Angesicht zu Angesicht sehen«, erklärte sie. »Anders geht es nicht. Ich gehe zu ihm nach Hause.«
»Nach Hause«, meinte Bea zerstreut. »Einfach so? Ohne Vorwarnung? Finden Sie wirklich …?«
»Ja.« Flavia nickte.
Bea hatte sie beinahe bewundernd angesehen. »Sie sind ein beherztes kleines Ding, das muss ich schon sagen«, sagte sie und fragte dann: »Soll ich Sie begleiten?«
»Nein.« Entschieden schüttelte Flavia ihre dunklen Locken. Das war ihre Reise, sie musste sie allein unternehmen.
»Dann müssen Sie mich anrufen, nachdem Sie dort gewesen sind«, sagte Bea. »Und ich erwarte Sie in spätestens drei Tagen zurück.«
»Si.«
Doch als der Zug jetzt ratternd einen Bahnhof nach dem anderen hinter sich ließ, spürte Flavia, wie ihre Gewissheit ins Wanken geriet. Was, wenn er gar nicht mehr dort wohnte? Wenn sich nach all dieser Zeit herausstellte, dass Peter es nie zurück nach England geschafft hatte? Oder wenn seine Familie kalt oder boshaft war oder nicht mit einem Mädchen aus Sizilien sprechen wollte? Peter, Peter, Peter, ratterte der Zug.
Endlich fuhren sie in den Bahnhof ein, und Flavia nahm ihre Tasche, drückte den Hebel hinunter, mit dem sich die schwere Tür öffnen ließ, und ging den Bahnsteig entlang. Auch dieses Mal winkte sie ein Taxi heran. Inzwischen konnte sie das ganz gut; es kam auf die entschiedene Handbewegung an. Und dann saß sie wieder im Wagen, drückte die Tasche an ihre Brust und sah Bilder einer Stadt vorüberziehen …
Exeter unterschied sich sehr von London. Der Straßenverkehr war weniger dicht, die Stadt war grüner, kleiner und wirkte nicht so einschüchternd auf sie. Allerdings waren auch hier die Spuren der Kriegsjahre zu erkennen. Sie passierten mehrere verkohlte Ruinen und Trümmergrundstücke. Peter … , dachte Flavia. Aber sie sah auch hier Zeichen des Wiederaufbaus. Bea Westerman hatte ihr erklärt, dass England dabei sei, seine ganze Zukunft neu zu errichten. Flavia fragte sich, ob das möglich war. Und doch, es stimmte, dass durch den Wiederaufbau ein Gefühl von Hoffnung in der Luft lag, eine neue Energie nach den Kriegsjahren. Sie sah einen Kohlenwagen, der auf Auslieferungstour war. Die
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