Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Wenn sie damals zusammengeblieben wären, hätten sie sich trotzdem früher oder später getrennt, das war offensichtlich. Noch eine zerbrochene Familie … Welchen Unterschied machte es also, dass er schon gegangen war, bevor sie geboren wurde?
Er setzte sie wieder bei Nonna und Pops ab.
»Wie hast du dich mit ihm verstanden?«, erkundigte sich Nonna in der Sekunde, in der sie durch die Tür trat. Sie sah immer noch argwöhnisch aus. Aber da war auch noch etwas anderes, was Ginny nicht deuten konnte.
»Ich mag ihn«, sagte Ginny und war selbst überrascht über ihre Worte. »Ich mag ihn sehr.«
Plötzlich piepte ihr Handy. Sie grub es aus ihrer Tasche und warf einen Blick auf das Display. MUM. Ach, Mist!
52. Kapitel
D as war das offenste Gespräch gewesen, das sie seit Langem geführt hatten, überlegte Tess ein paar Tage später auf dem Weg zum Hotel Faraglione, wo sie sich mit Millie zum Kaffee treffen wollte. Sie vermutete, dass ein Teil von ihr, ein egoistischer Teil, wie sie zugeben musste, sich wünschte, Ginny würde ihren Vater in die Wüste schicken und Dinge zu ihm sagen wie: Wo bist du mein ganzes Leben lang gewesen? Etwas in der Art.
Aber Ginny hatte sie überrascht, indem sie überlegter reagiert hatte, achtsamer. »Es ist gut für mich, Mum«, hatte sie gesagt.
»Warum?« War sie denn so eine schlechte Mutter gewesen? Hatte sie all die Jahre nicht genug für Ginny getan?
»Weil er ein paar meiner Fragen beantworten kann«, hatte ihre Tochter gesagt. »Fragen, die ich ihm seit Jahren stellen will.«
Die Sonne schien heiß vom blauen, dunstigen sizilianischen Himmel, als Tess über das staubige Kopfsteinpflaster der schmalen Straßen ging. Wieso war sie nie auf die Idee gekommen, dass Ginny Fragen an David haben würde? Dass es manches gab, was sie, Tess, nicht erklären konnte. Hauptsächlich, weil sie die Antworten selbst nicht kannte.
»Ich komme sofort nach Hause«, hatte Tess ihr erklärt. »Ich muss David sehen. Ich möchte nicht, dass du allein damit fertig werden musst.«
»Aber, Mum«, hatte Ginny ihr entgegnet. »Ich will allein damit fertigwerden. Ich möchte Zeit mit ihm verbringen. Verstehst du das nicht?«
Tess hatte es versucht. Aber sie begriff nur eines: Ginny wollte nicht, dass sie zurückkam. Sie wollte mit ihrem Vater zusammen sein. Ihr ganzes gemeinsames Leben bisher schien ausgelöscht zu sein; es zählte nicht mehr.
»Nicht, weil ich dich nicht lieb hätte, Mum«, hatte Ginny gesagt, als wüsste sie genau, was ihrer Mutter durch den Kopf ging. »Und nicht, weil du mir nicht fehlen würdest. Das tust du nämlich.«
Es war lange her, dass ihre Tochter so etwas zu ihr gesagt hatte. Am liebsten wäre Tess in Tränen ausgebrochen. »Okay, Schatz«, hatte sie gesagt. »Aber wenn du mich brauchst, rufst du an.«
»Mach ich.«
»Und, Ginny?«
»Ja?«
»Ich hab dich auch lieb.«
Sein Kind zu lieben, überlegte Tess, als sie das kühle, geflieste Foyer des Hotels betrat, bedeutete manchmal, es gehen zu lassen. Es war nicht einfach, aber sie musste es versuchen.
Tess sah ihre neuen Freunde nicht so oft, wie sie gehofft hatte, denn Millie hatte im Hotel zu tun, und Pierro verreiste oft geschäftlich. Er schien allerhand Eisen im Feuer zu haben. Trotzdem war es gut, eine Freundin zu haben, mit der man Englisch sprechen konnte, und Pierro hatte ihr bei ihren Ideen für die Villa Sirena sehr geholfen. Tess hatte feststellen müssen, dass es nicht leicht war, als Frau allein mit einer heruntergekommenen Villa auf Sizilien zurechtzukommen.
»Geht es dir auch gut?«, fragte Millie, als sie Kaffee einschenkte. »Du kommst mir ein wenig zerstreut vor.« Sie saßen zu dritt auf der Privatterrasse des Hotels, auf der zahlreiche Blumenkübel standen, in denen Jasmin und lila und orangefarbene Bougainvillea wuchsen und die von einer Stoffmarkise beschattet wurde. Heute trug Millie ein leuchtend gelbes Sonnenkleid. Zusammen mit dem roten Lippenstift, dem roten Nagellack und ihrem schwarzen Haar wirkte sie ebenfalls wie eine exotische Blume, dachte Tess. Hübsch und vollkommen, aber so zart, dass sie vielleicht zerbrechen würde, wenn man sie berührte.
»Bei mir zu Hause gab es ein paar Probleme«, räumte sie ein. Sie war versucht, Millie die ganze Geschichte zu erzählen, aber das hätte zu lange gedauert.
»Teenager.« Millie lächelte. »Ich kann es mir vorstellen.«
»Und ich habe mich mit Tonino gestritten«, fügte Tess hinzu. »Über diese lächerliche
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