Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
sehen, denn sie hoffte immer noch, dass es nicht wahr war. Es konnte nicht wahr sein.
Sie setzte sich in eine Teestube an einer Ecke, beobachtete die Straße und wartete. Es kam ihr vor, als ob ihr ganzes Leben aus Warten bestand. An der Wand gegenüber hing ein Plakat, das für eine Pantomimen-Aufführung warb. Jack und die Bohnenranke , las sie. Im Theatre Royal .
Hinter der Theke stand ein junger Mann. Er beobachtete sie. »Geht es Ihnen gut?«, hatte er sie schon ein paar Mal gefragt. Er hatte freundlich dreinblickende blaue Augen. Nicht so blau wie die von Peter, aber freundlich. Inzwischen wusste sie, dass viele Menschen in England blaue Augen hatten, aber Peters Augen waren trotzdem etwas Besonderes.
»Ja, danke«, antwortete sie und drehte die weiße Tasse mit dem Kakao in ihren kalten Händen hin und her. Hinter der Theke drang das Klappern von Geschirr hervor, das Zischen von Dampf. Ein nettes Paar, ein hübsches Kind …
» Das Problem ist nur, dass ich bald schließen muss«, sagte er. »Gibt es einen Ort, wo Sie hinkönnen?«
»Hinkönnen?«, wiederholte sie.
Er wirkte verlegen, wie er so dastand und an seiner Manschette herumfingerte, die unter seinem weißen Kellnerkittel hervorlugte. Er schob die gläsernen Salz- und Pfefferstreuer zur Seite und wischte mit einem Lappen über den Tisch. »Heute Abend, meine ich. Sie sehen aus, als wären Sie weit weg von zu Hause.«
Sie brach unvermittelt in Lachen aus. Ich bin ja hysterisch, dachte sie. Aber … Weit weg von zu Hause? Ja, das war sie, wenn Sizilien ihre Heimat war. Wenn Sizilien jemals wieder ihre Heimat sein könnte.
Der junge Mann runzelte die Stirn. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er. »Es ist nur …«
Und dann sah sie ihn durch das beschlagene Fenster des Cafés. Er kam die Straße entlang; er lief genau auf sie zu. Er war älter und schwerer, und seine Schultern waren leicht gebeugt, was früher nicht der Fall gewesen war. Aber dennoch erkannte sie ihn sogar in dem schwachen Licht einer gelben Straßenlaterne.
»Peter«, murmelte sie. Und dann war sie innerhalb von Sekunden von ihrem Stuhl aufgesprungen und durch die Tür.
Keine drei Meter von ihm entfernt blieb sie auf dem Gehweg stehen. »Peter.« Sie sagte es leise, kaum hörbar.
Vielleicht spürte er sie eher, als dass er sie gehört hatte. Er schaute sich um, runzelte die Stirn und erkannte sie, alles im gleichen Moment. Sie sah Verwirrung, Unglauben, Freude auf seinem Gesicht aufleuchten.
»Flavia?« Nur Peter konnte ihren Namen so romantisch aussprechen. »Flavia?«
Flavia stürzte sich in seine Arme. Sie konnte nicht anders. Es war so lange her, und jetzt war er da. Und …
»Ja, ich bin es«, sagte sie.
Einen Moment lang, der eine Ewigkeit zu dauern schien und doch blitzschnell vorbei war, hielt er sie in den Armen. Sie spürte seine Not, seine Liebe, sein Begehren wie ein bernsteinfarbenes Licht, das sich um ihre Seele schloss.
Doch dann löste er sich von ihr. »Flavia? Bist du es wirklich? Lieber Gott! Was in aller Welt suchst du hier?« Er wirkte unruhig und strich sich das Haar aus der Stirn. Flavia erinnerte sich an diese Bewegung. Nervös sah er die Straße entlang. Menschen eilten in ihren mit Gürteln geschlossenen Mänteln und den Schals, die sie sich über Nase und Mund hochgezogen hatten, heimwärts. Es war kalt. Aber es war noch nicht vollständig dunkel, und die Straßenbeleuchtung verlieh dem Himmel einen seltsamen orangefarbenen Schein. »Woher um Himmels willen wusstest du, wo …?«
»Ich bin zu dem Haus gegangen«, erklärte sie. »Zu der Adresse, die du mir gegeben hast.« Damals, in einer anderen Welt.
»Du bist den ganzen weiten Weg aus Sizilien hierhergekommen?« Er starrte sie an, fast so, als wünschte er sich, dass es nicht so wäre.
»Si« , sagte sie. »Um dich zu suchen.« Es war die schlichte Wahrheit, größtenteils jedenfalls.
Er fluchte halblaut und schaute wieder die Straße entlang.
In welchem Haus sie wohl wohnten, das nette Paar mit dem hübschen Kind? Ob seine Frau jetzt dort auf ihn wartete?
»Aber du hast nicht auf mich gewartet«, sagte sie. Damit hatte sie nicht gerechnet. Dass Peter eine andere gefunden hätte. Und doch war es so offensichtlich. Warum sonst hatte er ihr nicht geschrieben? Warum sonst war er nicht gekommen, um sie zu holen?
Peter ergriff ihre Hände. Als er sie berührte, spürte sie Sehnsucht in sich aufwallen. Peter …
»Du hast mir doch nicht geschrieben«, gab er zurück. »Du hast keinen meiner
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