Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
dumm.
»Dich selbst erforschen?«, ergänzte er.
»Ja, schon. Irgendwie.« Mich finden , hatte sie sagen wollen. Ein anderes Ich finden. Ein Ich, das leben kann, ohne dass ständig eine Mutter darauf aufpasst, ein Ich, das eine Kugel besiegen kann.
»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte ihr Vater. »Du brauchst es nicht zu unterdrücken.« Er streckte die Hand aus und berührte ihren Arm. Sie glaubte ihm. Dann spürte sie, wie die Kugel ihre Umklammerung lockerte, als falle ein Tentakel von ihr ab. Als hätte die Kugel etwas anderes erwartet und wäre zum ersten Mal, seit sie existierte, enttäuscht worden.
55. Kapitel
F lavia musste sich stark konzentrieren, um sich an die Abfolge der Ereignisse zu erinnern. Sie fand das wichtig. Schließlich sollte ihr Bericht so genau wie möglich sein. Aber es fiel ihr leichter, sich an die Gefühle zu erinnern als an die Fakten. Vielleicht war das immer so.
Ein paar Monate nachdem sie Peter in Exeter getroffen hatte, bekam Flavia einen Brief von dem jungen Mann aus der Teestube, der sie an diesem Abend mitgenommen und im Haus seiner Mutter beherbergt hatte.
»Ich komme nach London«, schrieb er. »Können wir uns sehen?«
Flavia war sich nicht sicher, ob sie das wollte. Eigentlich wollte sie nicht an den Abend in Exeter erinnert werden, doch Bea überzeugte sie davon, dass es sich um eine reine Höflichkeit handeln würde. »Überlegen Sie doch«, fügte sie hinzu. »Was hätten Sie in dieser Nacht nur ohne den jungen Mann angefangen, Liebes?«
Das stimmte. Also traf sich Flavia mit ihm, und er lud sie zu Fisch und Pommes frites in einem Café in Shepherds Bush ein und zu einem kleinen Guiness im Royal Crown. Es war ein nebliger Winterabend Ende Februar, an dem man sich nur schwer vorstellen konnte, dass der Frühling vor der Tür stand. Wahrscheinlich dauerte es in England lange, bis der Frühling kam. Und der Nebel … Smog nannte man ihn in London. Flavia kam er vor wie ein geheimnisvoller Mantel, der sich wie ein Leichentuch über die Stadt legte, während Autos und Busse vorbeibrummten und Straßenbahnen lautlos durch das körnige, gelbe Licht glitten. Sie wusste, dass er Gesundheitsprobleme verursachte, aber trotzdem gefiel ihr seine seltsame, schwere Stille.
»Das geht vorbei, wenn es wärmer wird«, hatte Bea Westerman ihr erklärt. »Das ist die Umweltverschmutzung durch den Kohlenrauch.« Das glaubte Flavia gern. Es war, als versuche man, unter einer dicken Musselinschicht zu atmen. Jeder sah in diesem Licht abgehärmt und grau aus. Er jedoch nicht; sein Gesicht war rosig, und er sah gesund und fröhlich aus. Er war ein Hauch frischer Luft.
Er sprach nicht von dem, was in Exeter geschehen war, sondern fragte Flavia, wie ihr das Leben in London gefiel.
»Es ist anders«, gestand sie. Sie schaute sich in dem Pub um; auch das war eine neue Welt für sie. Der Biergeruch, die schmuddelige Umgebung, die großen Spiegel mit der Bierwerbung, die neuesten Wahlplakate, der fleckige Teppich, die Männer in Anzügen an der Theke. Das Lokal hatte nichts mit den Bars in ihrer Heimat gemeinsam.
Ein Teil von ihr sehnte sich nach der Wärme Siziliens. Und doch … Hier war sie vollkommen frei. Sie hatte begonnen, die Stadt zu erkunden, hatte den Markt in der Petticoat Lane und die bengalischen Läden in der Brick Lane mit ihren unbekannten Gewürzen, leuchtenden Seidenstoffen und indischen Süßigkeiten besucht. In Covent Garden hatte sie Blumen und Gemüse gekauft. In der Gegend von Holborn hatte sie ein italienisches Viertel entdeckt, das sich um eine Kirche, St. Peter’s, gruppierte, und dorthin ging sie jeden Sonntag, um nachzudenken und zu beten. Ihr Gott hatte ihr nicht geschenkt, was sie sich am meisten auf der Welt gewünscht hatte … Und sie war sich nicht einmal ganz sicher, ob sie noch an Ihn glaubte. Aber die andächtige Stimmung, die dort herrschte, war ihr ein Trost und schenkte ihr Kraft.
Sie durchstreifte auch Soho; ein Labyrinth aus schmalen Straßen, in denen sie sich eigenartig zu Hause fühlte. Vielleicht lag es daran, dass dieses Gebiet ein Konglomerat aus europäischem und afrikanischem Straßenleben, Cafés und Jazzclubs war. Sie war nicht naiv; natürlich wusste sie über die zweifelhafteren Nachtclubs und das Sexgeschäft Bescheid. Aber bei Tag herrschte in diesem Viertel eine Lebendigkeit, die sie anzog. Sie entdeckte sogar eine italienische Kaffeebar mit Espressomaschine, künstlerisch angehauchten Dekorationen und einer Jukebox. An ihren
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