Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
die Royal Festival Hall zu machen. Schon das Äußere der Kuppel faszinierte Flavia, nicht zuletzt wegen des Gegensatzes, den sie zu dem nadelspitzen Skylon-Turm daneben bildete. Sie hätte diese futuristische Vision stundenlang betrachten können. Bea sah das Ganze dagegen eher politisch. »Sechs Millionen Pfund«, murmelte sie. »Eine Million Ziegelsteine.«
»Wirklich?« Flavia folgte ihr nach drinnen.
Bea war philosophisch gestimmt. »Diese Ausstellung soll der Nation neuen Mut schenken, meine Liebe«, sagte sie. »Nach dem Krieg, den wir überstanden haben, ist das auch dringend nötig, wissen Sie.«
Zusammen mit der Menschenmenge wurden sie von einer Rolltreppe in das Innere des Gebäudes hineingetragen, das sie allerdings erst erblickten, als sie die Rolltreppe verließen. Aber dann – ta, ta! – wurde alles enthüllt: die prächtigen Galerienränge und das gewaltige, geschwungene Dach mit seinem Gitterwerk aus Stützbalken. Sie hörte um sich herum Ausrufe des Erstaunens: »Oh« und »Ah« und »Na, so etwas«.
Auch Flavia war fasziniert. Sie hatte gehört, dies sei der größte Kuppelbau der ganzen Welt. Und sie schritt hindurch. Die Ausstellung begann mit der Topografie Großbritanniens und der Entstehung seiner Bodenschätze. Dann arbeitete sie sich über die Themen Landschaft, Flora und Fauna vor bis zu Landwirtschaft und Rohstoffe, Schiffsbau und Transport, bevor die Auflistung von Großbritanniens Leistungen sich schließlich bis ins Unendliche fortsetzte, als sie zu Meer, Himmel und Weltraum kamen. Dass Großbritannien eine solche Weltmacht war, hätte sich Flavia nie träumen lassen. Im Vergleich zu Großbritannien war Sizilien so etwas wie ein armer Verwandter. Sie richtete sich gerader auf, denn sie war stolz darauf, dass sie, Flavia Farro, sich hier in London befand und Zeugin dieses großartigen Ereignisses wurde.
Von der Fernsehausstellung zeigte sich Bea nicht beeindruckt. Sie habe nie begriffen, wozu das gut sein sollte, murrte sie. Was Flavia anging, so überstieg sie beinahe ihre Vorstellungskraft. Dann folgte das Thema »Die Briten«, symbolisiert durch den Löwen und das Einhorn, die für Kraft und Fantasie standen. Verstohlen sah sie sich unter den Umstehenden um. Sehr verbreitet waren diese Eigenschaften hier nicht. Und doch hatte es Männer gegeben, Entdecker wie Kapitän Cook und große Wissenschaftler wie Charles Darwin, die diese Eigenschaften im Übermaß besessen hatten.
Schließlich zogen sie sich in eine nahe gelegene Teestube zurück. »Hat es Ihnen gefallen, meine Liebe?«, erkundigte sich Bea. »Die Ausstellung soll ja sehr lehrreich sein.«
»Oh ja!«, versicherte Flavia ihr. »Es war sehr nett von Ihnen, mich mitzunehmen.«
Beas Miene wurde weicher. »Ich habe Sie sehr lieb gewonnen«, sagte sie. »Und daher …«
Eine seltsame Vorahnung überkam Flavia.
Und da nahm Bea auch schon ihre Hand und erklärte: »Ich verlasse London, meine Liebe. Ich ziehe zu einer Freundin nach Dorset.«
»Dorset?« Flavia runzelte die Stirn.
»Das Haus ist klein«, fuhr Bea fort, »und es tut mir schrecklich leid, meine Liebe, aber …«
»Ich kann nicht mitkommen«, sagte Flavia. »Sie brauchen mich nicht.«
Bea nickte. »Meine Freundin legt Wert auf ihre Eigenständigkeit«, erklärte sie. »Sie zieht es vor, selbst zu kochen und sauber zu machen.« Sie drückte Flavias Hand herunter und schenkte den Tee selbst ein.
»Ich verstehe«, gab Flavia zurück. Sie sah zu, wie die goldene Flüssigkeit in die Porzellantasse floss. Aber was sollte sie jetzt tun? Was sollte sie ohne diese Frau anfangen, die so freundlich zu ihr gewesen war?
»Genau wie ich hat Jane nie geheiratet«, fuhr Bea fort. »Sie wünscht sich weibliche Gesellschaft.« Sie rührte Milch und eine kleine Menge Zucker in den Tee.
»Ja, natürlich.« In Wahrheit wollte Flavia nichts weiter von Jane hören.
»Mir ist dieses Arrangement sehr recht«, erklärte Bea. »London ist schließlich eine Stadt für junge Leute.«
Sicher, im Vergleich zu Cetaria war London voll mit Menschen, laut und furchteinflößend, aber Flavia hatte sich daran gewöhnt, und jetzt würde sie sich eben eine richtige Arbeit suchen müssen. Es war eigentlich immer nur eine Frage der Zeit gewesen.
»Aber«, sagte Bea und nippte graziös an ihrem Tee, »ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen, meine Liebe.«
Wie sich herausstellte, wollte Bea eine gewisse Summe Geldes in ein Geschäft investieren. »Dadurch, dass ich aus London wegziehe,
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