Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
sprechen?«
Ob sie mit ihm sprechen wollte? »Ja natürlich, gib ihn mir«, sagte sie. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss. »Dad?«
»Mir geht’s gut, Schatz.« Gott sei Dank.
»Was hast du denn angestellt?« Sie versuchte, einen leichten Ton anzuschlagen.
»Ach, du weißt schon. Hab versucht, den Helden zu spielen.«
Tess lächelte. Er war immer ihr Held gewesen. Sie wusste noch, wie sie ihm in ihrer Wohnung über dem Azurro nachgelaufen war, wenn er irgendwelche anfallenden Reparaturen erledigte. Mein kleiner Lehrling , hatte er immer zu ihr gesagt. Sie erinnerte sich, wie sie im Azurro ausgeholfen, Besorgungen erledigt, Tische abgewischt und Gebäck aus der Küche geholt hatte. Er hatte immer Zeit für sie gehabt. Wenn sie ein Problem in der Schule hatte, konnte sie ihm immer davon erzählen. Genauso war es, wenn sie sich verloren fühlte oder etwas nicht verstand. »Das wird sich schon lösen, Schatz«, pflegte er zu sagen. »Du wirst sehen.«
»Ich finde, du solltest dein Superman-Cape einmotten, Dad«, sagte sie jetzt. »Findest du nicht, dass du etwas kürzertreten solltest?« Sie ging durch die Küche, hängte ihre Tasche über einen Stuhl, nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas ein.
»Da könntest du recht haben.« Er lachte leise. »Aber du brauchst nicht gleich zurückzukommen, mein Mädchen. Mir geht es gut. Deine Mutter gluckt um mich herum wie eine alte Henne. Ganz zu schweigen von deiner Tochter.«
»Dann kannst du dich ja beinahe glücklich schätzen.« Tess lächelte.
»Ich gebe dich wieder an Muma zurück. Sie will mit dir reden.«
»Okay. Pass auf dich auf. Ich drück dich!« Tess ging auf die Terrasse hinaus. Das Meer tief unter ihr sah kühl und einladend aus. Sie wünschte, sie könnte von hier oben aus hineintauchen …
Ihre Mutter kam wieder ans Telefon.
»Um Gottes willen«, rief sie aus, als ihre Mutter ihr die Geschichte erzählt hatte. »Er ist fast achtzig. Er muss mit solchen Aktionen aufhören. Er ist doch mittlerweile ein alter Mann.« Es schmerzte sie, das sagen zu müssen.
»Es ist nicht nötig, auch noch Salz in die Wunde zu streuen«, gab ihre Mutter zurück. »Du kennst doch deinen Vater. Wenn es gilt, jemanden zu retten, wirft er sich in die Brosche.«
»Bresche«, verbesserte Tess sie zerstreut. »Dann geht es ihm wirklich gut?«
»Wie oft soll ich das noch sagen? Es geht ihm wirklich gut.«
»Und Ginny?«
»Ginny geht es gut.« Sie hörte, dass sie zögerte. »Sie hat dir natürlich von David erzählt?«
»Ja.« Tess trank noch einen Schluck Wasser. »Was will er? Was meinst du, soll ich zurückkommen und schauen, was da los ist?«
»Er hat dir geschrieben«, sagte ihre Mutter. »Vielleicht solltest du abwarten, was er zu sagen hat.«
»Einen Brief?« Das klang nicht nach David. Tess hielt das Handy ans andere Ohr. Sie stand auf und ging in den terrassenförmig angelegten Garten hinunter, vorbei an dem stillgelegten Springbrunnen und dem Hibiskus. Unterdessen lauschte sie der Stimme ihrer Mutter, die davon erzählte, wie David wieder in ihrer aller Leben aufgetaucht war.
Sie sah hinüber zu den Überresten des Häuschens, in dem die Familie ihrer Mutter gewohnt hatte. Nur ein Haufen Steine … Sie dachte an das sizilianische Mädchen und ihren englischen Flieger. »Für ihn ist das alles ganz einfach, Muma«, meinte sie, als ihre Mutter eine Pause einlegte. »Aber für mich war es nicht leicht, wenn du dich erinnerst.«
Sie hatte von Anfang an akzeptiert, dass sie eine alleinerziehende Mutter war und allein zurechtkommen musste, jedenfalls ohne Mann. Und sie hatte nie etwas von David verlangt. Das wäre auch sinnlos gewesen, weil er nie etwas besessen hatte. Stets hatte sie dem Impuls widerstanden, vor ihrer Tochter schlecht über ihn zu reden. Abgesehen davon, dass er weggelaufen war, hatte sie ihm ja auch nichts vorzuwerfen. Aber … Es ärgerte sie, dass er ausgerechnet jetzt aufkreuzte, zu einem Zeitpunkt, an dem sie nicht da war und Ginny eine schwierige Phase durchmachte. Das war so typisch für ihn.
»Ich weiß«, sagte ihre Mutter. »Nur war es für David vielleicht auch nicht so einfach, wie du dachtest.«
»Na schön.« Sie ging wieder zurück zu dem schmiedeeisernen Tisch und trank noch einen großen Schluck von ihrem Mineralwasser. Sie fühlte sich immer noch versucht, in den nächsten Flieger zu steigen. Wegen ihres Vaters und wegen David – und weil die Sache mit Tonino schiefgelaufen war …
Weitere Kostenlose Bücher