Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
herausfinden wollte. Wenn sie nur mit ihr hätte reden können.
Sie erreichten eine Straße, die steil zum Meer hin abfiel. Tess erhaschte einen Blick auf eine kleine von Felsen umgebene Bucht und ein bunt gestrichenes Fischerboot, das an einem Kai vertäut lag. Sie reckte den Kopf, doch schon versperrte ihr ein weiteres hohes Steingebäude wieder den Blick. Die Frau brummelte immer noch vor sich hin, und wieder schnappte sie den Namen Flavia auf, dann l’Inglese , dann Maria und Santina. Irgendwann bekreuzigte sich ihre merkwürdige Fremdenführerin sogar. Was hatte ihre Mutter nur getan? Und wollte Tess das wirklich wissen?
Tess quittierte die unverständlichen Reden der Frau mit einem unbestimmten Nicken. Aber ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren. Und ob sie es wissen wollte! Vielleicht hatte Edward Westerman ja gewollt, dass sie die Geschichte ihrer Mutter erfuhr, und er hatte deswegen mit der Klausel in seinem Testament dafür gesorgt, dass sie herkam. Aber woher hatte er wissen können, dass sie die Geschichte noch nicht kannte? Sie ging schneller, um mit ihrer Führerin Schritt zu halten. Nun, er hatte jedenfalls aus irgendeinem Grund gewollt, dass sie … Sie zögerte. Dass sie sich auf diesen Ort einließ.
Die alte Frau nickte und winkte immer noch und huschte über das Kopfsteinpflaster wie eine Schwarze Witwe. Tess erwiderte ihr Nicken und lächelte aufmunternd; etwas anderes konnte sie nicht tun. Es musste ein Geheimnis geben. Warum sonst wollte Muma nicht über früher reden? Das Geheimnis war ein Teil ihrer Reise. Und die Vergangenheit war hier, in den grauen Straßen mit dem Kopfsteinpflaster und den hohen Häusern mit den geschlossenen Fensterläden. Die Vergangenheit. Sizilien, das wurde ihr langsam klar, ließ einen nie wieder los.
Sie blieben vor einer Tür mit einem rostigen Eisengitter stehen. Nummer 15. Die grüne Farbe blätterte ab. Die Frau, die immer noch vor sich hingrummelte, klopfte dreimal.
Tess lächelte schwach und wartete. Was blieb ihr auch anderes übrig?
Nach ein paar Minuten kam eine weitere alte Frau – ebenfalls in Schwarz gekleidet – an die Tür, spähte zuerst vorsichtig hinaus und öffnete die Tür dann ein bisschen weiter. Sie nickte der anderen Frau in Schwarz zu. Dann sah sie Tess und riss die Augen auf.
Wieder lächelte Tess und nickte energisch. Das sah vielleicht verrückt aus, aber anscheinend kam sie auf diese Art weiter.
Die beiden älteren Frauen begrüßten einander herzlich, führten ein schnelles, von viel Zungenschnalzen und Kopfschütteln untermaltes Gespräch und schauten Tess an, als wäre sie ein seltenes Tier im Zoo. Gab es hier keine englischen Touristen? Oder war Tess so interessant, weil sie die Hausbesitzerin und damit eine potenzielle neue Nachbarin war? Oder lag es daran, dass sie Flavias Tochter war?
Tess wurde langsam ungeduldig. Sie war so weit gereist und war ihrem Ziel so nahe. Die Abenddämmerung war bereits angebrochen, und es wurde langsam dunkel. Verdammt, sie wollte ihr Haus sehen! Sie hatte keine Lust, hier an der Tür einer Unbekannten zu stehen und sich ein nicht enden wollendes Geplapper anzuhören, das sie nicht verstand.
»Bitte«, sagte sie.
Die beiden sahen sie an und hörten auf zu reden, als hätte sie einen Schalter umgelegt.
»Haben Sie den Schlüssel zur Villa Sirena?«, fragte sie die zweite Frau. Sie machte eine Handbewegung, als drehe sie einen unsichtbaren Schlüssel um. »Bitte? Grazie.«
Ähnlich wie zuvor die erste Frau ergriff nun die zweite Tess bei den Armen, und Tess, die angesichts der erstaunlichen Kraft der alten Frau aus dem Gleichgewicht geriet, fühlte sich unerwartet in eine Umarmung gezogen. Die Frau versetzte ihr zwei laute Schmatzer auf die Wangen, bei denen Tess ihr borstiges Kinn zu spüren bekam. Herrje!
»Santina«, erklärte die Frau und zeigte auf sich selbst.
»Haben Sie den Schlüssel?«, fragte Tess, die sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen wollte. Falls Santina erwartete, dass Tess wusste, wer sie war, dann hatte sie Pech gehabt, denn sie hatte keine Ahnung.
Daraufhin zerrte Santina sie praktisch über die Schwelle. Der Flur war dunkel, schmuddelig und blutrot angestrichen. An der Wand hingen, aufs Geratewohl zusammengewürfelt, zahlreiche gerahmte Fotos und andere Erinnerungsstücke. Santina verabschiedete sich von der anderen Frau in Schwarz und dirigierte Tess, deren Arm sie immer noch fest umfasst hielt, in die Küche. Sie war dunkel, hatte weiß getünchte Wände und
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