Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
über die Felder zu ihm zu rennen. Sie brannte darauf, dort zu sein, seine Wunden zu waschen und zu versorgen, seinen seltsamen Worten zu lauschen und in die blauen Tiefen seiner Augen zu sehen. Hatte er sie verhext? Sie dachte nicht einmal über die Folgen ihrer Handlungen nach. Nichts anderes war mehr wichtig.
Am vierten Tag war seine Stirn heiß, zu heiß, und sie wusste, dass er Fieber hatte. Er aß kaum von dem Essen, das sie ihm gebracht hatte, und sein Lächeln war so schwach, dass es ihr Angst einjagte. Er redete kaum mit ihr. Sie spürte, dass er bald das Bewusstsein verlieren würde. Und als sie durch den Olivenhain zurückging, hatte sie das Gefühl, dass sich etwas verändert hatte.
Zu Hause stellte sie fest, dass die Familie – Papa, Mama, Maria – sie erwartete wie eine Abordnung.
»Wo warst du, Tochter?«, fragte ihr Vater. Seine Augen waren düster wie ein Gewitterhimmel.
»Nur spazieren«, stammelte sie. Aber dann sah sie Maria an und wusste es. Hatte Maria sie zu ihm laufen gesehen? War sie ihr gefolgt? Ihre Schwester war so selbstgerecht, so überheblich. Flavia richtete sich gerade auf. Was machte es schon, dass sie ohne Anstandsdame ausgegangen war, dass sie ihre Ehre riskiert hatte? Sein Leben stand auf dem Spiel. Leben und Tod, das waren die wirklichen Themen, die einzig wichtigen.
»Was hast du getan?« Ihre Mutter trat auf sie zu. »Heilige Muttergottes, was hast du getan?«
»Nichts!« Flavia fühlte sich ertappt. »Ich habe nichts Falsches getan. Es ist nur …«
Und dann, mit einem Mal, war ihr alles zu viel: ihre Angst um seine Gesundheit, ihre Sorge, dass er sich nicht mehr erholen würde, dass das Fieber schlimmer würde und er dort in dem Feld sterben könnte. Und sie würde es erst erfahren, wenn sie am nächsten Nachmittag kam, nur um ihn …
Stockend erzählte sie ihnen von dem Piloten. Dass sie ihm Verschwiegenheit hatte schwören müssen und er sie um Hilfe angefleht hatte. Dass sie geglaubt hatte, dass er sonst keine Chance hätte.
Als ihr Vater das hörte, veränderte sich seine Miene. Er murmelte einen Fluch und schnappte sich seine Jacke von dem Haken neben der Tür. »Ich muss es den anderen sagen«, erklärte er.
Flavia wusste, dass er seine Kumpane meinte – Alberto und die Männer, mit denen er im Café redete. Konnte man ihnen vertrauen? Sie dachte an Santinas Vater, Enzo. Also, ihm vertraute sie jedenfalls nicht. Er hatte ein dunkles, hartes Gesicht mit schmalen Lippen, und sie glaubte nicht, dass er die Sympathien ihres Vaters für die Engländer teilte. Er war ein Mensch, der nur an sich selbst und die Sciarras dachte.
»Papa«, rief sie. »Ihr werdet ihm doch nichts tun?«
Er drehte sich zu ihr um. »Darüber kann ich nicht allein entscheiden. Wir werden sehen. Wenn Alberto einverstanden ist, bringen wir ihn her. Hilf deiner Mutter, ein Bett zu beziehen.«
»Papa!«
Aber er war schon fort.
Flavia sank auf die Knie. Sie würde für ihn beten, für diesen Piloten, der vom Himmel gefallen war und sie seinen Engel nannte. Für seine Rettung beten. Rettung … Sie runzelte die Stirn. Doch selbst wenn die Männer ihn herbrachten und er nicht sterben würde, würde der Flieger je wieder mit ihr sprechen, nachdem sie ihn so verraten hatte?
16. Kapitel
A m nächsten Morgen frühstückte Tess auf der Terrasse. Im Haus hatte sie Tischwäsche gefunden, Geschirr, Besteck, eigentlich alles an Hausrat, was man sich vorstellen konnte. Das Haus befand sich zwar in einem chaotischen Zustand, aber es war vollständig möbliert, und auf den Steinböden lagen sogar noch alte, schmuddelige, aber prächtige Teppiche mit kühnen Mustern in Fuchsia, Tiefblau und Braun. Als wäre Edward Westerman einfach eines Tages davongegangen, um nie mehr zurückzukehren, dachte sie und tupfte sich mit einer der cremeweißen Damastservietten, denen sie nicht hatte widerstehen können, Krümel von den Lippen. Auf gewisse Weise war er das ja auch.
Der Anwalt hatte ihr schon am Telefon erklärt, dass die Villa möbliert sei. Theoretisch konnte sie das Haus auch vermieten statt es zu verkaufen. Sie schlürfte ihren Kaffee. Das schien ihr sogar die bessere Idee zu sein. Sie mochte sich nicht davon trennen, noch nicht. Es kam ihr vor wie ein ganz besonderes Geschenk, das man nicht einfach so weiterverkaufen durfte, ohne das Für und Wider gebührend abgewogen zu haben. Der Nachteil war natürlich, dass sie dann Geld in das Haus investieren musste, Geld, das sie momentan nicht im Überfluss
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