Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
besaß. Vielleicht würde sie das Thema einmal bei Giovanni anschneiden, um seine Vorstellung davon zu gewinnen, wie viele Feriengäste nach Cetaria kamen und ob so ein Unternehmen erfolgreich sein könnte.
Der große Pluspunkt war auf jeden Fall die überwältigende Aussicht … Sie stand auf und ging über die Terrasse, um zum baglio hinunterzusehen und zu dem Gebäude mit der Armee von Ankern vor der Tür, von dem sie jetzt wusste, dass dort früher Tunfisch verarbeitet worden war. Ihr fiel auf, dass eine der Felseninseln draußen auf dem Meer wie eine Burgruine geformt war. In dem dunstigen Morgenlicht wirkte der Stein beinahe silbern, als hätte ein Zauberstab die Felsen berührt. Das Meer war an diesem Morgen glatt und ruhig. Der Anblick war einladend, und sie spürte schon wieder das vertraute Verlangen, ins Wasser einzutauchen.
Im Hafen lag ein Fischerboot, und jemand, der an dem gemauerten Anleger stand, wies wild gestikulierend darauf und brüllte auf Italienisch herum. Sie erkannte den Mosaikmann und lachte amüsiert auf. Temperament hatte er jedenfalls. Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte Giovanni ja doch recht, was den Burschen anging. Er machte einen leicht durchgedrehten Eindruck.
Nachdem sie abgeräumt hatte, ging sie zum Wasser hinunter, um ein morgendliches Bad zu nehmen. Der Mosaikmann stampfte zwischen dem Platz und seinem Atelier hin und her, das ein Teil des ummauerten baglio war. Für das Fenster, in dem die Mosaiken auslagen, hatte man allerdings einen Durchbruch in der Mauer vorgenommen.
»Ciao.« Seine Miene war halb finster, und halb lächelte er. »Sie gehen jetzt baden, so früh?«
»Allerdings.« Sie hielt inne. »Arbeiten Sie jeden Tag hier?«
»Ich arbeite, esse und schlafe hier.« Mit einer Kopfbewegung wies er hinein. »Ich habe da hinten noch Zimmer, sehen Sie?«
Tess sah nichts, nicht von hier aus. Aber sie sah, dass das Atelier tiefer war, als sie gedacht hatte, denn sie erkannte den Umriss des Raums und der hohen Kuppeldecke. Sie war fasziniert. Aber wollte sie wirklich die Höhle des Löwen betreten? Lieber nicht. »Ich habe Sie heute Morgen gehört.« Sie musste ihn einfach darauf ansprechen. »Sie klangen ziemlich wütend.«
Zornig blitzten seine Augen auf. »Idioten«, erklärte er. »Sie fahren aufs Meer hinaus und werfen ihre zerrissenen Netze über Bord. Einfach so.« Er machte eine entsprechende Handbewegung. »Kein Gedanke an die Gefahr.« Er tippte sich an den Kopf. »Stupido.«
Tess nickte. Sie verstand, was er meinte. In einem zerrissenen Fischernetz konnte sich alles Mögliche verfangen; das war verantwortungslos. Andererseits hatte sie bisher den Eindruck gewonnen, dass es für Sizilianer nicht unbedingt höchste Priorität hatte, den eigenen Dreck wegzuräumen. Das verdarb einem die Freude an der Landschaft. In jeder malerischen Ecke fand sich auch ein Müllhaufen. Langsam begriff sie, dass Sizilien ein Land der Gegensätze war. Schönheit und Hässlichkeit, Licht und Dunkelheit, Romantik und Gefahr.
Und überhaupt, hatte der Mosaikmann gerade nicht ein wenig überreagiert? Sie betrachtete ihn neugierig. Die Narbe in seinem Gesicht war alt und verlieh ihm etwas Piratenhaftes. Vielleicht stammte sie aus seiner Kindheit. Aber das war nicht alles. In den Schatten um seine Augen lag eine Trauer, die er nicht ganz verstecken konnte. Sie erweckte in ihr den Wunsch, auf ihn zuzugehen. Jemand oder etwas hatte ihn verletzt, und zwar sehr.
»Ist nicht so wichtig.« Seine Miene widersprach seinen Worten. »Es ist nichts.« Was immer ihn umtrieb, er tat es mit einer Handbewegung ab. »Nimm dir fünf.«
»Nimm dir fünf?«, wiederholte Tess fragend.
»Prendere cinque.« Er verzog das Gesicht. »Ein sizilianischer Brauch. Man soll sich jeden Tag fünf Minuten Zeit nehmen, um Dampf abzulassen.«
Tess lächelte. »Klingt nach einer guten Idee.« Sie kannte ein paar Leute in England, deren Stresslevel davon profitieren sollte.
»Es hindert uns daran, verrückt zu werden.«
»Gut.« Sie war sich nicht ganz sicher, wie ernst sie ihn nehmen konnte. Aber …
»Genießen Sie das Wasser. Ciao .« Und damit war er verschwunden.
Ein sensibles Seelchen, dachte sie, während sie auf die Felsen zuschwamm. Jetzt sah sie, warum die Steine aus der Entfernung silbrig gewirkt hatten. Wildgräser und Thymian klammerten sich an die steil abfallenden Felsen.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Gespräch mit ihrer Mutter gestern Abend.
»Natürlich erinnere ich mich an
Weitere Kostenlose Bücher