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Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)

Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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Inspiration, Tonino?«, fragte sie. »Für Ihre Arbeit, meine ich.« Sie hörte, wie die Espressokanne auf dem Herd zu blubbern begann. Die Luft füllte sich mit dem rauchigen, verführerischen Duft guten Kaffees.
    Er lächelte. »Aus Geschichten.«
    »Was für Geschichten?«
    »Sizilianische Märchen, Mythen, Legenden. Nennen Sie es, wie Sie wollen.« Er breitete die Hände aus. »Wussten Sie, dass unsere Geschichte voll ist von Raub und Vergewaltigung und Armut? Das ist ein Teil des Puzzles, von dem ich Ihnen erzählt habe.«
    Tess nickte. Anscheinend war es unmöglich, mit diesem Mann oberflächlich zu plaudern. Alles, was er sagte, besaß Tiefgang. Das war entweder faszinierend oder ermüdend, vielleicht auch eine Mischung aus beidem.
    »Die Geschichten handeln von Mut und Mitgefühl«, erklärte er, »von Unterdrückung, Raub und Verrat.«
    Da war es wieder: Raub und Verrat. Dieses Thema schien immer wieder aufzutauchen. Ob Giovanni Sciarra doch recht hatte, was diesen Mann anging? Aufbrausend war er schon, das hatte sie erlebt. Aber er strahlte auch eine Aufrichtigkeit aus, die ihr gefiel.
    »Und die Themen, die Sie wählen …?« Sie berührte ein Mosaik, das einen Fisch darstellte. Der Fisch war silbergrau und gelb und stieg aus einem perlweißen Meer auf. Das Fischmosaik war auf einem Spiegel angelegt, der von einer Reihe zarter, gelber Flossen eingerahmt wurde. Tess lächelte. Das würde Ginny gefallen. Es passte perfekt in ihr Badezimmer zu Hause. Aber sie mochte ihn nicht nach dem Preis fragen. Sie wollte nicht, dass er sie für eine Touristin hielt, für eine weitere Kundin, der man schmeicheln musste. »Die Bilder gehören zu den Geschichten, oder?«
    »Genau.« Er goss den Kaffee in winzige weiße Tassen. Das Gebräu war dick und schwarz und die crema haselnussbraun.
    »Und der Fisch …?«
    »Das ist die Geschichte von Ciccu «, sagte er. »Er rettet einen Fisch vor dem Tod und wird dafür belohnt. Der Fisch bringt Ciccu einen Goldring, den zu finden sein König ihm befohlen hatte. Hätte er ihn nicht gefunden, hätte er sterben müssen.« Er stellte die Kaffeekanne wieder auf den Ofen. »Mut und Mitgefühl werden belohnt, verstehen Sie?«
    Tess nickte. Wurde ihre Familie auch belohnt – mit der Villa Sirena?
    »Aber das sind doch nur Geschichten«, meinte sie. »Oder?«
    »Vielleicht.« Er setzte sich neben sie, und sie war sich der Wärme, die seine Haut ausstrahlte, bewusst. Er war ihr so nahe, dass sie beinahe Gänsehaut bekam. »Aber die Geschichten verleihen den Unterdrückten eine Stimme. Den Armen, den Bauern, denen, die keine Macht haben …«
    »Ich verstehe.« Tess dachte daran, was Giovanni ihr über die Armut in Sizilien erzählt hatte. Die Familie ihrer Mutter musste ebenfalls gelitten haben – zumindest, bis Edward Westerman ihnen Arbeit gegeben hatte. Und sie erinnerte sich an ein paar der Gutenachtgeschichten, die ihre Mutter ihr zu erzählen pflegte – von weiten Reisen, menschenfressenden Riesen und bösen Prinzen. Waren das ebenfalls sizilianische Volksmärchen und Sagen? Wurden sie, genau wie die Rezepte, von einer Generation an die nächste weitergegeben?
    »Freud war der Überzeugung, dass alte Fabeln und Mythen die Funktionsweise des menschlichen Geistes exakt widerspiegeln«, dozierte Tonino.
    Tess starrte ihn an. Der Mann war eine Offenbarung. »Wirklich?«, fragte sie. »Erzählen Sie mir noch eine Geschichte, ja?« Sie ließ ihren Blick über die Mosaike schweifen, bis sie den grünen Vogel entdeckte. Sein Kopf war gesenkt, als habe er gerade ein Insekt erspäht. Sein Schnabel war leuchtend gelb und zweigeteilt. Er hatte die Flügel ausgebreitet, und der gegabelte Schwanz war aufgerichtet, als wolle er losfliegen. Seine Mosaikfedern glitzerten und schimmerten in dem Sonnenlicht, das durch das Fenster hereinströmte, in Jade- und Smaragdtönen. »Was ist mit dem hier?«
    »Der grüne Vogel ist in Wirklichkeit ein Prinz«, erklärte er.
    Tess nippte an ihrem Kaffee und lehnte sich zurück, um ihm zu lauschen. Könige und Königinnen und Zaubersprüche … Es war wie eine Rückkehr in ihre Kindheit. Sie fühlte sich beschützt und schläfrig. Der Kaffee war köstlich. Er war kräftig geröstet und schmeckte genauso, wie er gerochen hatte: nach heruntergebranntem Feuer, Kastanien und Nacht. Das Aroma zog einem den Gaumen zusammen, und doch war da auch eine Süße, die nachklang wie Tabak.
    Während sie ihren Kaffee tranken, arbeitete und erzählte er weiter, und Tess

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