Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
richtig angefühlt. Noch nicht. Aber trotzdem …
»Keine Sorge«, hatte Ben gesagt. »Ich falle schon nicht über dich her.«
Warum zum Geier nicht? Was stimmte nicht an ihr? Über Becca fielen ständig Jungs her. Ginny hatte Ben gesagt, er könne über Nacht bleiben. Was brauchte er denn sonst noch für eine Einladung?
Er schlief schnell ein, und nachdem sie sich übergeben hatte – so leise wie möglich auf dem Klo im Erdgeschoss –, schlief Ginny auch ein. Am Morgen hatte sie ihm, obwohl sie sich total verkatert fühlte, ein Sandwich mit Frühstücksspeck gemacht, und er war gegangen. Ginny kam zu dem Schluss, dass sie Jungs nicht verstand. Überhaupt nicht.
»Nichts ist passiert«, sagte sie Becca.
»Ja, schon gut«, gab Becca zurück, und dann redete sie weiter über Harry. Feste Beziehung hin oder her, mit Harry war eine Menge passiert, und Becca beschrieb es nur zu gern in allen plastischen Einzelheiten …
»Du siehst Ben also wieder?«, fragte sie Ginny im Gehen.
»Ich denke schon«, antwortete Ginny. Sie schaute schon den ganzen Tag alle zehn Minuten auf ihr Handy. Doch mit jeder Stunde, die verging, nahm ihr Optimismus rapide ab.
»Bleib cool«, sagte Becca.
Ginny nickte. »Du auch.«
Nachdem sie weg war, wusste Ginny nicht recht, was sie tun sollte. Die Kugel zog sich immer fester zusammen und bewegte sich auf ihre Kehle zu, also beschloss sie, ihrer Mutter eine SMS zu schreiben. Das würde vielleicht ihr schlechtes Gewissen beruhigen.
Fehlst mir, schrieb sie. Hoffe, Sizilien ist toll. Gruß und Kuss
Nur wenig später kam eine SMS zurück. Ginny lächelte. Ihre Mutter wurde schneller. Fehlst mir auch, Ginny-Schatz , stand darin. Rufe später an. Alles Liebe, Mama.
Ginny-Schatz … So hatte ihre Mutter sie seit Ewigkeiten nicht mehr genannt. Und plötzlich und ohne jeden ersichtlichen Grund wollte Ginny einfach nur noch losheulen.
18. Kapitel
T ess fand Giovanni auf der anderen Seite des baglio , wo er mit ein paar Männern mit tiefbrauner Haut sprach. Als sie Tess sahen, machten sie sich aus dem Staub.
»Ciao« , sagte sie.
Nach dem Blick zu urteilen, den er ihr zuwarf, hatte er ihr noch nicht verziehen, dass sie mit dem Feind gesprochen hatte. »Tess.« Er neigte den Kopf.
»Ich wollte Sie fragen, ob ich bald einmal mit Ihnen und Ihrer Tante Santina reden kann.«
»Si.« Er zuckte mit den Schultern. »Wie wäre es mit heute Abend, zum dolce? «
»Dolce?«
»Süßigkeiten. Dessert.« Er küsste genüsslich seine Finger. »Es gibt auch ein Glas Wein dazu. Wie wär’s?«
»Sehr gern. Soll ich zu Ihnen kommen?« Sie war sich allerdings nicht sicher, ob sie das Haus wiederfinden würde. Das Dorf auf der anderen Seite des baglio war ein Labyrinth, das bis hinauf zur Hauptstraße und aus der Stadt hinausführte. Gerade wenn man auf der einen Seite des Steinbogens eine Treppe entdeckt hatte, die von der piazza nach oben führte und einem bekannt vorkam, entdeckte man auf der anderen Seite eine weitere, die genauso aussah.
Nachdem sie sich heute Morgen von Tonino verabschiedet hatte, war sie zurück in die Villa gegangen und hatte sich umgezogen. Danach hatte sie die Gegend erkundet und versucht, ein Gefühl für diesen Ort zu bekommen, in dem ihre Mutter ihre Jugendjahre verbracht hatte. Am Rand des Dorfes lagen im Osten Felder und Olivenhaine und im Westen Berge. Die bunt durcheinandergewürfelten Häuser im Zentrum von Cetaria waren aus Stein erbaut und sahen verwittert aus. Ihre verblassten Stuckfassaden besaßen blaue oder grüne Fensterläden, und die Dächer und Dachrinnen bestanden aus Terrakotta. Die mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen waren schmal und steil und gruppierten sich um piazzas mit Steinbänken und alten Brunnen und gelegentlich auch einer winzigen Kapelle und einem Feigen- oder Olivenbaum. Der Duft von Jasmin und Hibiskus lag in der Luft, und immer wieder kam man um eine Ecke und erhaschte beinahe unerwartet einen Blick auf die Bucht. Das ganze Dorf schien sich zum baglio und zum Meer hinzuwenden.
Vormittags erledigten die Frauen ihre Wäsche, putzten und kauften ein. Leuchtend bunte Teppiche, Bettlaken und Kleidung hingen vor den Fenstern oder auf Leinen, die über Balkons gespannt waren, und wehten im Wind. Die Frauen scharten sich um Marktstände, wischten ihre Eingangstreppen oder Fenster, bis sie blitzten, und unterbrachen sich alle paar Minuten, um lange Gespräche mit anderen Frauen zu führen. Es waren größtenteils alte Frauen, die in Schwarz
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