Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Kruste war beim Hineinbeißen knusprig, aber die Füllung war üppig und cremig.
»Ricotta mit Honig und kandierten Früchten«, erklärte Giovanni. »Das Äußere, die Hülle des Gebäcks, nennt man scorza .«
»Hmmm.« Das Teilchen war ziemlich mächtig. Tess wollte sich nicht einmal vorstellen, wie viele Kalorien es hatte. Natürlich war sie sizilianisches Gebäck gewöhnt. Muma machte oft cassata, tartafino und cornetti . Letztere waren im Grund eine italienische Version des Croissants. Aber irgendwie schmeckten sie hier anders.
Sie nahm das Glas Wein, das Giovanni ihr reichte. »Salute« , sagte sie.
Er grinste. »Ex und hopp. Sagen Sie das nicht so in England?«
Sie lachte. »Heutzutage nicht mehr so oft.«
Santina redete immer noch.
Giovanni nickte. »›Liebe ist für das ganze Leben‹, sagt sie. ›Der Richtige kann nicht immer zur rechten Zeit kommen.‹«
Tess dachte an Robin. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihn zu heiraten. Unabhängig von der unbestreitbaren Tatsache, dass er schon verheiratet war, ergab es für sie auch einfach kein Bild: sie beide verheiratet, zusammen, wie sie ihr Leben miteinander teilten. Und doch, war es nicht das, was sie sich immer gewünscht hatte? Die große Liebe ihres Lebens, einen Partner, einen Seelenverwandten? War es nicht das, was sich jeder Mensch tief im Herzen wünschte?
»Könnten Sie Santina nach meiner Mutter fragen?«, bat sie Giovanni. Sie wandte sich der alten Frau zu, als könne diese sie verstehen. »Muma spricht nämlich nie von Sizilien oder von ihrer Kindheit«, erklärte sie. »Ich verstehe nicht, warum. Es gibt so vieles, was ich wissen möchte.« Sie merkte, dass sie ihre Hände zu Fäusten zusammengeballt hatte.
Santinas dunkles, faltiges Gesicht wirkte freundlich, fast so, als hätte sie sie verstanden.
Wieder sprach Giovanni mit ihr, und sie nickte, wobei sie Tess nicht aus den Augen ließ.
»Fragen Sie sie, ob es einen jungen Mann gab, den Flavia liebte«, sagte Tess und beobachtete sie.
Santina blinzelte und sagte etwas zu Giovanni. Sie zeigte in Richtung Decke, und Giovanni seufzte schwer und stand auf. Gott, Tess wünschte, sie spräche Italienisch.
Giovanni verließ den Raum. »Sie möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte er im Gehen. »Ich bin gleich wieder zurück.«
Als er fort war, kam Santina wie ein Pfeil auf sie zugeschossen. Sie legte ihre Hand fest auf Tess’ Kopf. »Ihre Mutter war aus Feuer«, flüsterte sie.
Tess starrte sie mit offenem Mund an. »Sie sprechen Englisch …«
»Pssst.« Santina warf einen Blick zur offenen Tür. »Giovanni … nicht weiß.«
Tess nickte. Sie hätte gern erfahren, warum nicht, aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Santinas Worte hatten eine Spannung geschaffen, die nun in der Luft hing.
»Flavia nie tun, was sie wollen«, murmelte Santina in ihrem gebrochenen Englisch. »Flavia tun, was Flavia wollen.«
Tess packte ihre Hand. »Und was wollte sie, Santina? Können Sie mir das sagen?«
»Flavia nie wollen die jungen Männer aus dem Dorf. Pah!« Noch ein Blick in Richtung Tür.
»Wen dann?« Das war ein Durchbruch, den Tess sich nicht hatte träumen lassen.
»Ah.« Einen Moment lang wirkte Santina traurig. »Sie wollen frei sein, mein Kind. Ihre Mutter frei sein wollen.« Sie seufzte. »In Sizilien«, sagte sie, »frei sein nicht möglich.«
Tess drückte ihre Hand. »Und Sie?«, flüsterte sie. »Wollten Sie auch frei sein?« Sie konnte sich das Leben, das Santina und ihre Mutter geführt hatten, kaum vorstellen. Die Armut, von der Giovanni gesprochen hatte, die Schrecken des Krieges und des Faschismus. Und dann noch die Mafia!
Heftig schüttelte Santina den Kopf. »Für Frauen nicht möglich«, sagte sie. »Wir haben Haushalt, wir werden verheiratet – oder nicht.« Sie fixierte Tess mit ihren unergründlichen dunklen Augen. »Das sein unser Leben.«
Aber es war nicht Flavias Leben, dachte Tess. »Was ist mit ihr passiert?«, wisperte sie. »Was ist mit Flavia passiert?« Sie konnte nur an ihre Mutter denken, den kleinen Feuerkopf, der frei sein wollte. Sie konnte beinahe sehen, wie sie in den Feldern mit Santina spielte, im Häuschen bei der Hausarbeit half, sich in der Villa Sirena von Edward Westerman vorlesen ließ. Wie sie etwas über Lyrik und über England lernte, wo eine Frau frei sein konnte.
Santina beugte sich so nahe zu ihr heran, dass Tess ihre trockene Haut spürte und ihren warmen Atem roch. »Flavia finden den Engländer«, flüsterte Santina.
Weitere Kostenlose Bücher