Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
»Sie ihn finden, Kind. Si .« Sie nickte energisch.
Tess hörte Giovannis schwere Schritte auf der Treppe. »Was für ein Engländer?« Und was meinte sie damit, dass Flavia ihn gefunden hatte? Santina strich ihr übers Haar, berührte ihre Wange und zog sich auf die andere Seite des Raums zurück. Sie begann leise zu summen.
Giovanni trat in die Küche. Er hielt seiner Tante ein besticktes Stück Stoff hin, ein altes Mustertuch.
Lächelnd brachte sie es Tess und sprach jetzt wieder Italienisch.
Giovanni übersetzte. Inzwischen wirkte er gelangweilt. »Sie sagt, sie hätte das zusammen mit Flavia gestickt. Es war eine Art, wie sagen Sie, Freundschaftsbeweis.« Er zuckte mit den Schultern.
Tess berührte den Stoff, eine Art dünnes, naturfarbenes Leinen. Die Stiche waren mit der Zeit verblasst, aber sie erkannte das Kreuzstichmuster, die ineinander verschlungenen Rhomben. »Es ist wunderschön«, sagte sie und sah Santina direkt an.
Die alte Frau senkte den Kopf.
Tess gab ihr das Mustertuch zurück und trank einen Schluck von ihrem Wein, der süß und zähflüssig war. Dolce , allerdings. Sie wusste nicht, was sie jetzt fragen sollte und ob sie das zuvor Gehörte ansprechen durfte.
Santina begann wieder zu sprechen.
»Etwas ist geschehen«, erklärte Giovanni düster. »Im Krieg. Meine Tante war im Haus Ihrer Mutter nicht mehr willkommen. Die Familie Farro hatte ein Geheimnis. Sie wusste nicht, was es war. Flavia hat es nicht verraten, und meine Tante hat es nie herausgefunden.«
Tess runzelte die Stirn. Noch ein Geheimnis? Sie nahm ein weiteres dolce . Sie waren wirklich gut. Aber etwas sagte ihr, dass es vielleicht mehr als eine Version dieser alten Geschichte gab. Santina wollte nicht, dass Giovanni erfuhr, dass sie Englisch verstand. Vielleicht wollte sie auch nicht, dass er die Wahrheit erfuhr?
Santina lächelte und nickte.
»Sie sieht gern anderen beim Essen zu«, bemerkte Giovanni. »Früher hat sie alle dolce selbst gemacht. Aber das Backen dauert ewig, und heutzutage wird sie schnell müde.«
Santina lauschte seiner Übersetzung und antwortete dann.
»Sie sagt, Sie brauchen pazienza – Geduld – und Kraft«, erklärte er Tess. »Bei dolce darf man nichts überstürzen.«
Tess nickte feierlich. Sprach Santina nur von den dolce? Auch Tonino hatte von Geduld geredet, aber sie hatte nur eine Woche Zeit, um das herauszufinden, was sie wissen musste, um zu entscheiden, was sie mit ihrer Erbschaft anfangen sollte. Hatte sie genug Zeit, um sich in Geduld zu üben? »Und dann ist meine Mutter nach England gegangen?«, fragte sie.
Giovanni gab ihre Frage weiter.
»Damals noch nicht«, sagte er, nachdem Santina geantwortet hatte. »Flavia ist erst ein paar Jahre später fortgegangen. Da waren die Farros und die Sciarras einander wieder simpatico .« Er gestikulierte mit den Händen wie schon zuvor. »Meine Tante sagt, Flavia sei traurig gewesen. Sie hat ihr nie erzählt, warum, aber meine Tante glaubt, dass es um Liebe ging.«
Tat es das nicht immer?
Als sie eine Stunde später hinter Giovanni das Haus verließ, packte Santina sie am Oberarm. »Kann nicht mehr sagen«, murmelte sie halblaut und küsste sie dann auf beide Wangen. »Ciao, ciao.«
Kann nicht mehr sagen … Was für eine zweideutige Formulierung, dachte Tess. Kann nicht , weil sie nicht die ganze Geschichte kannte – oder weil Giovanni Sciarra sich im Raum befand? Sie war sich nicht ganz sicher. Eines wusste sie allerdings: Sie musste allein mit Santina sprechen. Nur dann würde sie vielleicht die unzensierte Version der Geschichte ihrer Mutter zu hören bekommen …
Es war kurz nach neun. Die passeggiata war lange vorüber, und die Straßen waren beinahe leer. Als sie den baglio betraten, hätte Tess Giovanni am liebsten erklärt, dass sie den Rest des Wegs allein gehen würde. Sie hatte Lust, zu trödeln und die Gerüche und Schatten der Nacht auf sich wirken zu lassen. Aber das war schwierig, denn er ging wieder voran und war offensichtlich entschlossen, sie bis an ihre Haustür zu begleiten. Nein, bis hierher und nicht weiter, entschied sie.
»Haben Sie darüber nachgedacht, was Sie mit der Villa tun wollen?«, fragte er, als sie den baglio durchquerten und an dem mächtigen Eukalyptusbaum vorbeikamen.
»Schon, aber ich habe noch keine Entscheidung getroffen.« Sie roch den Mentholduft der Blätter, die ihre Schultern streiften. Er mischte sich mit der salzigen Luft und der Feuchtigkeit des Steins. »Ich hatte überlegt, sie
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