Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
meinte. Auf ihre Großeltern konnte man sich verlassen. Auf David nicht.
Ben erzählte sie das nicht, das war zu privat. Es ging ihr nur im Kopf herum, wie so oft. Sie und Ben gingen weiter, den Hügel hinauf, zu seiner Wohnung.
»Meiner ist vor ungefähr zehn Jahren abgehauen«, ließ sich Ben nach einer Weile vernehmen. »Er wohnt jetzt mit seiner neuen Frau in Bristol. Sie ist eine ziemlich blöde Kuh.«
Ginny fragte sich, wie es wohl war, wenn man wusste, dass der eigene Vater eine neue Frau hatte, blöde Kuh oder nicht. Es war ja gut und schön, wenn Eltern ständig lamentierten, sie hätten auch ein Leben und sollten, wollten, könnten nicht nur für ihre Kinder leben (ihre Mutter machte das oft, das war ihre »Zeit-für-mich«-Predigt), aber sie hatten einen schließlich auf die Welt gebracht, oder? Deswegen waren sie verantwortlich und sollten doch wohl zuallererst an ihr Kind denken und nicht daran, sich zu amüsieren, einfach in die Ferien zu fliegen, jemand anderen zu heiraten oder sonst was.
»Meiner ist in so eine Hippie-Kolonie gezogen«, sagte Ginny. Das war wenigstens interessant. Besser, abwesend und interessant zu sein als anwesend, aber langweilig, glatzköpfig und mit Haaren versehen, die aus der Nase wuchsen.
Mit vierzehn hatte sie ihn heftig vermisst und überlegt, per Internet Kontakt zu ihm aufzunehmen. Mit fünfzehn hatte sie es sich anders überlegt und ihn genauso heftig gehasst. Er hatte schließlich nie versucht, sich bei ihr zu melden, oder? Warum sollte sie sich dann die Mühe machen? Vielleicht würde sie einfach eines Tages, wenn sie ungeheuer erfolgreich war (worin, das wusste sie noch nicht genau), in Australien auftauchen, damit er sah, was ihm alles entgangen war, weil er sich verdrückt hatte. Was war ihm denn entgangen? , spottete die Kugel. Ginny ignorierte sie.
Mit sechzehn begann sie, ihrer Mutter die Schuld zu geben, weil sie ihn hatte gehen lassen. Offensichtlich hatte sie sich nicht genug Mühe gegeben, ihn zu halten.
Aber inzwischen hatte sie … Nun, sie hatte gelernt, seine Abwesenheit zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sie hatte miterlebt, wie streng die Väter ihre Freundinnen sein konnten. Ein einzelner Elternteil war deutlich einfacher zu manipulieren. Ihre Mutter war nicht gerade das typische Opfer, im Gegenteil, sie konnte ein ziemlich harter Brocken sein. Aber sie war anfällig gegenüber emotionaler Erpressung. Und darin war Ginny inzwischen Expertin.
Als sie bei Ben waren, schlug er eine DVD, Popcorn und Bier vor. Als der Film zu Ende war, schob Ben noch eine DVD in den Player, und Ginny schlief ein. Am nächsten Morgen machte Bens Mutter ihr ein Schinkensandwich, und dann ging sie nach Hause, um zu analysieren, was passiert war. Und um das Haus für die Rückkehr ihrer Mutter herzurichten.
War Ben vielleicht doch schwul? Das erschien ihr unwahrscheinlich. Brauchte er nur jemanden, mit dem er Filme sehen oder zusammen übernachten konnte? Wahrscheinlich. Stand er nicht auf sie? Sie hatten ein paar gute Küsse ausgetauscht, die aber zu nichts geführt hatten. Oder mochte er sie gern, respektierte sie aber zugleich? Wartete er auf ein Zeichen, das Ginny nicht kannte, oder darauf, sie besser kennenzulernen, oder darauf, dass eine angemessene Zeitspanne vergangen war?
Verdammte Hacke! Wie sie schon vermutet hatte, war es vollkommen sinnlos, Psychologie zu studieren. Denn Ginny hatte davon nicht einmal die leiseste Ahnung.
22. Kapitel
I hre Urlaubswoche war beinahe vorüber, und Tess wachte am Dienstagmorgen mit einem Gefühl von Traurigkeit auf. Morgen würde sie nach Palermo fahren und zurück nach Großbritannien fliegen. Die Zeit war viel zu schnell vergangen. Sie freute sich darauf, ihre Familie wiederzusehen. Robin allerdings … Sie reckte sich in dem breiten Bett aus Kastanienholz. Er hatte ihr mehrere SMS geschickt und ein paar Mal versucht, sie anzurufen, aber sie hatte weder geantwortet noch abgenommen. Das war vielleicht feige gewesen, aber sie würde sich schon noch mit ihm auseinandersetzen. Zu einem Zeitpunkt, den sie selbst bestimmte, und zu ihren eigenen Bedingungen.
Bei ihrer Suche nach Informationen war sie nicht weitergekommen. Sie war gestern zweimal bei Santina und Giovanni vorbeigegangen und hatte an die Tür geklopft, als sei sie zufällig vorbeigekommen. Einmal hatte niemand geöffnet, und einmal war Santina an die Tür gekommen, aber Giovanni war zu Hause gewesen, und sie hatten keine Möglichkeit gehabt zu reden. Geduld war ja schön
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