Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Mutter.
»Keine Ahnung. Hauptsache weg.« Zu ihrer eigenen Überraschung hatten die beiden letzten Worte ziemlich verbittert geklungen. Hasste sie Pridehaven wirklich so sehr? Hasste sie ihre Freunde und ihr Leben zu Hause? Hasste sie wirklich alles?
»Ist es wegen dieses … Ben?«, fragte ihre Mutter, die eher traurig als ärgerlich aussah.
»Nein, Mum! Du hörst mir nicht zu. Es geht um mich!« Und dann war sie hinausgerannt und hatte die Tür zugeknallt.
Ginny war bei Ben angekommen und hämmerte jetzt an die Tür. Warum konnten Eltern – oder in diesem Fall Mütter – einen bloß nicht verstehen?
Als Ginny am nächsten Morgen aufwachte, wusste sie zunächst nicht, wo sie war. Dann wurde es ihr klar: Oh, Mist, sie lag in Bens Bett in der Wohnung von Bens Mutter, und er schlief neben ihr. Und sie hatte ihrer Mutter nicht gesagt, dass sie nicht nach Hause kommen würde.
Außerdem lagen neben dem Bett sechs leere Bierflaschen, zwei Teller, auf denen die fettigen Reste von Burgern, Pommes und Bohnen klebten, sowie zwei DVDs. Ihre und Bens Kleider waren überall im Raum verstreut, als hätten sie, während ihre Besitzer schliefen, die ganze Nacht auf einer Techno-Fete getanzt und wären dann mittendrin erschöpft zusammengebrochen.
Ginny fühlte sich so ähnlich. Alles hatte sich verändert – und doch wieder nicht. Ob sie aufstehen sollte? Sie wog die Alternativen ab. Heute Nachmittag musste sie zum College, deshalb könnte sie nach Hause gehen, um für die heutige Prüfung zu lernen. Nicht, dass sie das tun würde. Nicht heute.
Sie glitt aus dem Bett, ohne Ben zu wecken, und ging ins Bad, um zu pinkeln. Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen und spitzte die Ohren, aber anscheinend war Bens Mum ausgegangen. Gut. Sie hatte keine Lust, länger als nötig hierzubleiben, nicht einmal für ein Bacon-Sandwich.
Ginny kehrte in Bens Zimmer zurück und begann, ihre Kleider zusammenzusuchen. Leise zog sie sich an und behielt dabei den plumpen Haufen im Bett – Ben – im Auge. Er lag immer noch komatös da, und sie vermutete, dass sich daran noch eine ganze Zeit lang nichts ändern würde.
Seit ihre Mutter aus Sizilien zurück war, war sie nicht mehr über Nacht bei Ben geblieben. Doch gestern Abend hatte sie ihrer Mutter auch keine SMS geschrieben und außerdem ihr Handy ausgeschaltet. Das hatte sie davon. Manchmal fragte sich Ginny, ob die Kugel sie dazu brachte, dass sie sich so benahm. Und manchmal überlegte sie, ob sie mit ihrem Verhalten die Kugel überhaupt erst geschaffen hatte. Ab und zu wünschte sie sich nichts mehr, als ihre Mutter zu umarmen und in Tränen auszubrechen. Aber die Kugel oder auch etwas anderes hielten sie davon ab.
Als Ginny angezogen war, trat sie ans Bett und schaute auf Ben hinunter. Sogar wenn er schlief, sah er toll aus. Aber sie war während der Nacht zu einer Erkenntnis gekommen.
Ginny verließ das Zimmer und schlich die Treppe hinunter. Sie verließ das Haus durch die Vordertür, aber sie fühlte sich anders als gestern Abend, als sie es durch dieselbe Tür betreten hatte. Alles hatte sich verändert, und doch war nichts anders. Sie war schließlich noch dieselbe Person, oder? Aber sie würde nie wieder dieselbe sein.
Der Streit mit ihrer Mutter war der Auslöser gewesen. Warum sollte sie Spielchen spielen? Warum nicht sagen, was sie empfand? Sie hatte sich an das Gespräch mit Becca am Tag nach der Party erinnert, und dieser Gedanke hatte sie einerseits traurig gemacht, weil sie Becca jetzt kaum noch sah. Sie ging vollkommen in ihrer Beziehung zu Harry auf. Trotzdem hatte Becca gesagt, was sie dachte.
Deswegen hatte Ginny das Gleiche getan.
»Ich mag dich, Ben«, hatte sie gesagt, als sie wie gewohnt nach oben in sein Zimmer gegangen waren. »Ich mag dich wirklich sehr.«
Er starrte sie an. »Yeah, ich mag dich auch.« Er lachte. »Ist doch klar.« Er ließ sich aufs Bett sacken. »Setz dich doch.«
Sie blieb stehen. »Ist es nicht«, erklärte sie.
»Häh?«
»Klar.«
»Oh.«
Er senkte den Blick, und da verstand sie auf einmal. Und zugleich stieg ein Gefühl von Macht in ihr auf, weil sie die Wahrheit erkannt hatte. So erstaunlich und unglaublich es zu sein schien: Er hatte nicht versucht, mit ihr zu schlafen, weil er Angst hatte. Nicht, weil er sie nicht mochte oder mehr Zeit brauchte oder so ein Mist. Er hatte einfach Angst.
Also setzte sie sich neben ihn aufs Bett und zeigte ihm, dass er keine Angst zu haben brauchte.
Und jetzt? Auf dem Heimweg dachte Ginny
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