Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
leben. Aber woher die plötzliche Kehrtwende? Tat sie das Richtige? Was war mit Ginny? »Ginny …«, sagte sie.
Ihre Mutter zog eine Augenbraue hoch. »Da stimmt etwas nicht«, konstatierte sie, als wüsste sie bereits Bescheid.
Tess erzählte ihr von dem Streit und davon, wie aufgewühlt er sie zurückgelassen hatte. Sie fragte sich, an welcher Stelle sie einen Fehler gemacht hatte. Ihre lebenslustige Tochter hatte sich irgendwie in einen widerspenstigen Teenager verwandelt. Aber das Schlimmste, das Allerschlimmste war, dass Ginny, die ihre liebste Gefährtin gewesen war, seit sie sprechen konnte, sie zurückgewiesen hatte. Kein Zweifel, ihre Tochter hatte keine Lust mehr, Zeit mit ihr zu verbringen. Und ganz bestimmt wollte sie nicht mit nach Sizilien kommen.
Tess fand sich plötzlich in den Armen ihrer Mutter wieder, etwas, was nicht besonders oft vorkam. Sie traute sich kaum zu atmen aus Angst, ihre Mutter könnte sie sonst loslassen. »Das geht vorbei«, sagte ihre Mutter. »Es ist ganz natürlich und gibt sich auch wieder.« Sie streichelte Tess’ Haar, als wäre sie wieder ein Kind. »Ginny soll ein paar Wochen zu mir kommen. Flieg nach Sizilien, wenn du musst. Vielleicht tut es euch beiden gut, eine Weile getrennt zu sein.«
Tess schluckte ihre Tränen hinunter. In den letzten Wochen hatte sie so viele neue, nie gekannte Gefühle empfunden, dass sich ihr Innerstes in Aufruhr befand. Die Frau in ihr sehnte sich verzweifelt danach, nach Sizilien zurückzukehren. Nicht nur, um das Rätsel zu lösen, sondern um ein Abenteuer zu erleben, um ihre Villa zu genießen, um ein wenig zu leben. Aber nun, da ihre Mutter ihr sozusagen die Erlaubnis und die finanziellen Mittel dazu gegeben hatte, war es die Mutter in ihr selbst, die sie zurückhielt. Sie hatte die Verantwortung dafür übernommen, Ginny allein großzuziehen, und sie sollte sich ihr stellen.
Sie seufzte. Es war nicht so ungewöhnlich, dass Ginny nachts nicht nach Hause kam, obwohl sie das eigentlich nicht durfte, wenn sie Prüfungen hatte. Teenager schienen kreuz und quer bei anderen zu schlafen. Das bedeutete nicht, dass sie alle Sexorgien feierten, sondern nur, dass sie keine Lust hatten, nach Hause zu kommen. Und selbst wenn Ginny wilden Sex hatte, sagte sich Tess, sie war achtzehn. Solange sie Kondome benutzte, war es ihre Sache, oder? Aber sie schickte Tess immer eine SMS, damit sie wusste, wo sie war, das war ihre Regel.
Als Tess ihre Tochter heute Morgen endlich zu Hause erreicht hatte, hatte Ginny sich nicht einmal entschuldigt. Tess wusste, dass es sinnlos war, wütend zu werden. Außerdem war das nicht ihr Stil. Aber bei solchen Gelegenheiten wünschte sie, David wäre als Vater präsenter gewesen.
Vielleicht hatte Muma recht, und eine Zeit der Trennung würde sowohl Ginny als auch Tess guttun. Ginny liebte und respektierte ihre Großeltern. Bei ihnen würde sie sich auf keinen Fall danebenbenehmen. Vielleicht wurde Tess doch nicht allein mit ihrer Tochter fertig. Sie dachte an das Geld, das ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Davon würde sie bestimmt mehrere Wochen leben können, während sie sich klar darüber wurde, was sie tun wollte. Was tun? Das war eine große Frage. Aber … Sie wollte nicht, dass Ginny und sie sich noch weiter voneinander entfernten. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich das Richtige tue«, gestand sie.
»Versteh mich nicht falsch.« Ihre Mutter sah ihr direkt in die Augen. »Ich will nicht, dass du fliegst. Aber ich verstehe, dass du es tun musst.« Sie nickte. »Und ich sehe, dass du eine Auszeit brauchst.« Sie legte Tess eine Hand auf die Schulter. »Du bist nicht Wonderwoman, mein Schatz. Du hast dieses Kind allein großgezogen, und du hast immer, immer zu schwer gearbeitet. Jetzt hast du keinen Job mehr, aber eine Villa in Cetaria. Jetzt kannst du weggehen und nachdenken. Worüber auch immer.«
Zum zweiten Mal an diesem Abend dachte Tess, was für eine bemerkenswerte Frau ihre Mutter war. Stark, selbstlos und verständnisvoll. Sie hatte das Gefühl, immer noch Einwände erheben zu müssen. Aber andererseits …
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ihre Mutter. »Flieg einfach, bring deine Gedanken in Ordnung, und dann ist es vorbei.« Sie öffnete die Tür des Backofens, wo ihr Essen vielversprechend vor sich hin brodelte. »Und jetzt«, erklärte sie und lächelte zum ersten Mal an diesem Abend, »kannst du deinen Vater zum Essen rufen.«
28. Kapitel
D as war es also, dachte Flavia. Tess wollte
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