Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Es kann doch nicht sein, daß wir in dieser Frage, die in gewissem Sinne die wichtigste Frage überhaupt ist, ohne stimmige Einstellung bleiben. Oder irre ich? Ist es am Ende so, daß es in dieser Sache einen unauflösbaren Widerstreit zwischen unterschiedlichen Urteilen und Empfindungen gibt, die gleichermaßen gut begründet sind? Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll.«
»Es sieht so aus, als stünden sich zwei Kulturen gegenüber: eine, in der es vorrangig um das Gemeinwohl und die Vermeidung von Leid geht, und eine andere, in der es vorrangig um den Schutz der Würde jedes einzelnen geht. Beide nehmen sie für sich in Anspruch, die Hüterin der moralischen Integrität zu sein. Für die eine besteht sie darin, vermeidbares Leid nicht zuzulassen, für die andere darin, die Würde unter keinen Umständen anzutasten. Und wie die Worte des Polizisten zeigen: Nicht nur die Würde der anderen wird in den verschiedenen Sichtweisen anders verstanden, sondern auch die eigene Würde, die Würde der Täter. Aus deiner Sicht besteht diese Würde darin, die fremde Würde auch im Angesicht von drohendem Leid zu schützen. Das Flugzeug nicht abzuschießen und den Entführer oder Terroristen nicht zu foltern. Sich tapfer gegen die Flut des Leids zu stemmen und dafür vielleicht beschimpft und moralisch verurteilt zu werden. Für den Polizisten dagegen besteht seine Würde darin, die gewohnte und auch von ihm sonst hochgehaltene Würde der anderen nicht durch eine anbrandende Welle von Leid überrollen zu lassen. Das sieht in der Tat nach einem unauflösbaren Konflikt zwischen zwei moralischen Perspektiven aus.
Doch vielleicht haben wir bisher zu einfach gedacht, zu simpel. Vielleicht ist es falsch und sogar unsinnig, nach einer Rangordnung zwischen Leid und Würde zu suchen. Wir sollten uns daran erinnern, wo die Idee und das Bedürfnis nach Würde herkommen . Sie sind uns nicht von einer göttlichen Instanz verordnet worden – auch wenn einige uns das einreden wollen. Sie sind uns überhaupt nicht verordnet worden. Wir haben die Idee erfunden und das Bedürfnis nach Würde entwickelt, um das Leben mit seinen Gefährdungen und Zumutungen besser bestehen zu können. Um einen Maßstab zu haben, eine Richtschnur, die uns eine bestimmte Art von Unglück zu vermeiden hilft: diejenige, die wir nun Verlust der Würde nennen, die es aber natürlich auch schon vor der Erfindung der Idee gegeben hat. Diese Erfindung – und das ist es, was wir nicht aus den Augen verlieren dürfen – haben wir für das gemacht, was man den gewöhnlichen Lauf der Dinge nennen könnte: für all die Umstände und Situationen des Lebens, die jeder kennt und die niemandem erspart bleiben. Dabei geht es nicht nur um Dinge, die harmlos sind und keine Herausforderung darstellen. Es geht auch um Verlust, Einsamkeit, Krankheit und Tod. Aber so gewaltig diese Erfahrungen auch sind, sie sprengen den gewöhnlichen Rahmen eines menschlichen Lebens nicht, sie machen einfach die condition humaine aus.
Doch manchmal geschieht es, daß die Welt vollständig aus den Fugen gerät. Durch Krieg, durch Terrorismus, durch Naturkatastrophen. Und dann – ja, dann kann es geschehen, daß der vertraute Maßstab der Würde und die Grenzen, die er für das Handeln zieht, nicht mehr – wie soll ich sagen – passen . Nicht mehr angemessen erscheinen. Wer das so erlebt, wird den Maßstab nicht vergessen . Auch nicht ignorieren . Er wird ihn für sein Handeln in Not als gewissermaßen ausgesetzt betrachten, als momentan suspendiert . Wie der Polizist. Die Not, aus der er handelt, ist eine zutiefst moralische Not: der unbedingte Wille, Leid zu verhindern. Aus dieser Not heraus erscheint ihm das Verbot, das man ihm entgegenhält, als ein Fetisch, der vor dem moralisch Naheliegenden eine Barriere aufrichtet. Die Berufung auf die Würde, die sonst – auch für ihn – Ausdruck moralischer Integrität ist, führt in seinen Augen nun zum Verlust dieser Integrität: Diejenigen, die sich am Terroristen die Finger nicht schmutzig machen wollen, werden schuldig. Danach, wenn die Bombe entschärft ist und der drohende Abgrund des Grauens sich geschlossen hat, treten die strikten Leitlinien der Würde wieder in Kraft. Und sie sind so strikt wie vorher. Vielleicht, daß man auf diesem Weg eine stimmige Einstellung erreicht?«
Sarahs Gedankengang ist zu unterscheiden von einer Sichtweise, der wir bei Sophie begegnet sind, die Höss die Stiefel leckt, und bei Roman Frister, der in Gedanken
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