Eine Geschichte aus zwei Städten
nachzuzählen und machte ihn augenscheinlich unruhig, obschon er sich in allen anderen Dingen so gefaßt benahm, daß Lorry zu dem Entschlusse kam, sich den Beistand zu sichern, auf den er es abgesehen hatte. Und der Beistand wurde ihm zuteil.
Nachdem das Frühstück vorüber und der Tisch abgeräumt war, blieb Mr. Lorry noch bei dem Doktor sitzen und begann vorsichtig:
»Mein werter Manette, ich bin ungemein begierig, im Vertrauen Euer Gutachten über einen sehr merkwürdigen Fall zu hören, der großes Interesse für mich hat; das heißt, mir eben kommt er sehr merkwürdig vor. Ihr seid ein einsichtsvoller, erfahrener Mann und beurteilt ihn vielleicht anders.«
Der Doktor warf einen Blick auf seine Hände, die von seinen jüngsten Arbeiten her noch unsauber waren, und zeigte
eine unruhige Miene, hörte aber aufmerksam zu. Er hatte auf seine Hände schon öfters hingesehen.
»Doktor Manette«, fuhr Mr. Lorry fort, indem er sanft seinen Arm anfaßte, »die Sache betrifft einen mir sehr lieben Freund. Ich bitte, zieht sie in Erwägung und erteilt mir einen guten Rat in seinem Interesse, vor allem aber um seiner Tochter – seiner Tochter willen, mein lieber Manette.«
»Wenn ich Euch recht verstehe«, sagte der Doktor in gedämpftem Tone, »so meint Ihr eine geistige Störung …«
»Ja.«
»Sprecht unumwunden«, versetzte der Doktor. »Ich muß die Einzelheiten kennen.«
Mr. Lorry sah, daß sie einander verstanden, und fuhr fort:
»Mein lieber Manette, es handelt sich um eine aus alter Zeit herstammende Störung, um schwere und bittere Schläge auf das Gefühl, auf das Gemüt, auf – auf – auf den Geist, wie Ihr's nennt. Den Geist. Es handelt sich um eine Erschütterung, die den Leidenden – man kann nicht sagen, wie lange – niederwarf, weil ich glaube, daß er die Zeit selbst nicht zu berechnen weiß und auf andere Art kein Aufschluß darüber zu gewinnen ist. Von dieser Erschütterung hatte er sich durch einen Prozeß wieder erholt, über den er sich keine Rechenschaft geben kann, wie ich ihn selbst einmal in eindringlichster Weise versichern hörte. Die Erholung war so vollständig gewesen, daß er aller seiner Geisteskräfte wieder mächtig wurde; er ging viel unter die Menschen und erweiterte die reichen Vorräte seines Wissens immer mehr und mehr. Aber unglücklicherweise –« er hielt inne und atmete tief auf – »hat ein kleiner Rückfall stattgefunden.«
Der Doktor fragte mit leiser Stimme:
»Von welcher Dauer?«
»Neun Tage und Nächte.«
»Wie zeigte sich die Sache? Vermutlich –«, er schaute wieder auf seine Hände, »in Wiederaufnahme einer alten Beschäftigung, die mit jener Störung im Zusammenhang stand?«
»So ist es.«
»Habt Ihr ihn auch bei jener ursprünglichen Beschäftigung beobachtet?« fragte der Doktor in bestimmtem, ruhigem Tone, obschon noch immer mit derselben leisen Stimme.
»Einmal.«
»Und als der Rückfall über ihn kam, war er nur in einzelnen oder in allen Beziehungen so wie damals?«
»Ich denke, in allen.«
»Ihr spracht von seiner Tochter. Weiß seine Tochter etwas von dem Rückfall?«
»Nein; er ist vor ihr geheimgehalten worden, und ich hoffe, sie soll nie etwas davon erfahren. Nur ich weiß davon und eine andere Person, der man trauen darf.«
Der Doktor ergriff seine Hand und flüsterte:
»Das war sehr liebevoll, sehr umsichtig von Euch.«
Mr. Lorry erwiderte den Händedruck, und beide saßen eine Weile schweigend beieinander.
»Nun, mein lieber Manette«, begann Mr. Lorry endlich in der rücksichtsvollsten und teilnehmendsten Weise wieder, »ich bin nur ein Geschäftsmann und verstehe mich nicht auf so verwickelte und schwierige Dinge. Es fehlt mir an den nötigen Kenntnissen, an der erforderlichen Einsicht, und ich bedarf einer Leitung. Aber es gibt keinen Mann in der Welt, von dem ich mir eine bessere Führung verspräche als von Euch. Sagt mir, was mag der Grund dieses Rückfalls gewesen sein? Sind wohl weitere zu befürchten? Kann ihnen vorgebeugt werden? Wie wäre ein solcher Rückfall zu behandeln? Welche Ursachen liegen dabei zugrunde? Und was kann ich tun für meinen Freund? Gewiß ist niemand so von Herzen bereit, einem
Freunde zu dienen, wie ich, wenn ich nur wüßte, wie ich mich zu verhalten hätte; aber in einem solchen Falle bin ich nicht einmal imstande, einen Anfang zu machen. Vielleicht könnte ich vieles leisten, wenn mich Eure Klugheit, Einsicht und Erfahrung auf den rechten Weg weisen wollten; aber ohne Leitung und
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