Eine Geschichte aus zwei Städten
Wiederkehr seines Zustandes führen?«
»Ich glaube nicht. Nein, ich glaube nicht«, fuhr Doktor Manette mit der Festigkeit der Überzeugung fort, »daß etwas anderes als jener eine Gedankengang diese Wirkung haben kann, und ich bin überzeugt, daß nur ein außerordentliches Zerren an der alten Saite einen Rückfall zu veranlassen vermag. Nach
den Vorgängen übrigens und nach der erfolgten Genesung kann ich mir nicht wohl denken, wie eine solche ungestüme Erregung wieder möglich ist. Ich hoffe und lebe fast des zuversichtlichen Glaubens, daß die Quellen des Rückfalls sich erschöpft haben.«
Er sprach dies mit der Zaghaftigkeit eines Menschen, der weiß, welcher kleine Umstand bisweilen imstande ist, den zarten Organismus des Geistes zu verwirren, zugleich aber mit einer Zuversicht, als habe er sein Vertrauen allmählich aus eigener schwerer Erfahrung und Trübsal gewonnen. Der Freund wollte natürlich diese Überzeugung nicht entmutigen. Er stellte sich, als fühle er eine Erleichterung, die ihm in Wirklichkeit fehlte, und suchte nun an seinen zweiten und letzten Punkt zu kommen. Allerdings mußte er sich selbst sagen, daß es der verfänglichere war; aber er durfte ihn nicht übergehen, wenn er seines Gespräches mit Miß Proß an jenem Sonntag morgen und alles dessen gedachte, was er während der letzten neun Tage gesehen hatte.
»Die Beschäftigung, die er unter dem Einfluß der so bald und so glücklich vorübergegangenen Störung wiederaufnahm«, sagte Mr. Lorry nach einigem Räuspern, »war – wir wollen sagen Schmiedearbeit. Ja, Schmiedearbeit. Nehmen wir zur näheren Beleuchtung des Falles an, er habe sich in seiner schlimmen Zeit ein wenig an der Esse beschäftigt. Wir wollen sagen, er sei unerwartet wieder vor seinem Blasebalge gefunden worden. Ist es nicht bedauerlich, daß er dieses Handwerkszeug behalten hat?«
Der Doktor beschattete sich die Stirn mit der Hand und klopfte krampfhaft mit dem Fuß auf den Boden.
»Er hatte es immer in seiner Nähe«, fuhr Mr. Lorry mit einem ängstlichen Blick auf seinen Freund fort. »Wäre es nicht besser, wenn er es beiseite schaffte?«
Noch immer schlug der Fuß bebend gegen den Boden, und noch immer hielt der Doktor die Hand vor die Stirn.
»Ihr findet es nicht leicht, hier einen Rat zu erteilen?« sagte Mr. Lorry.
»Ich begreife wohl, daß es eine kitzlige Frage ist. Und doch meine ich …«
Er schüttelte den Kopf und hielt inne.
»Ihr seht«, nahm endlich Doktor Manette nach einer beunruhigenden Pause das Wort, »wie schwer es ist, das innerste Triebwerk in dem Geiste dieses armen Mannes konsequent zu erklären. Er sehnte sich wieder einmal angstvoll nach dieser Beschäftigung, und sie war ihm hochwillkommen, als er wieder an sie ging. Ohne Zweifel brachte sie ihm große Erleichterung in seiner Not, indem sie an die Stelle der geistigen Verwirrung die der Finger und, als er sich wieder einübte, die Fertigkeit der Hände an die Stelle der Fertigkeit des Geistes setzte, um einem quälenden Gedankengang nachzuhängen. Deshalb konnte er sich auch nicht entschließen, das Werkzeug aus seiner Nähe zu entfernen. Er ist zwar jetzt hoffnungsvoller, als er je gewesen, und spricht sogar mit einer Art Zuversicht von sich selber; aber dennoch glaube ich, daß ihm der Gedanke, er könnte seiner alten Beschäftigung wieder bedürfen und sie nicht finden, ein Gefühl von Schrecken einflößt, ähnlich den Angstvorstellungen im Herzen eines verlassenen Kindes.«
Sein Äußeres bot gleichsam eine bildliche Erläuterung seiner Worte, als er den Blick zu Mr. Lorrys Gesicht erhob.
»Aber könnte nicht – wohlgemerkt, ich möchte nur Auskunft haben als ein Geschäftsmann, der mühsam sich abarbeiten muß und nur mit ganz materiellen Dingen, Guineen, Schillingen und Banknoten, zu tun hat–, könnte nicht die Beibehaltung des Gegenstandes auch ein Festhalten der Idee zur Folge haben? Schafft man die Sache fort, Doktor Manette, so
dürfte mit ihr auch die damit verbundene Furcht weichen. Mit einem Worte, ist es nicht ein Zugeständnis an diese, wenn man ihm diese Sache läßt?«
Abermaliges Schweigen.
»Ihr begreift aber doch«, sagte der Doktor bebend, »es ist so ein alter Gefährte.«
»Ich würde sie nicht behalten«, entgegnete Mr. Lorry mit Kopfschütteln; denn er gewann an Festigkeit, je unruhiger er den Doktor werden sah. »Ich wäre dafür, sie zu opfern. Allerdings möchte ich dazu Eure Zustimmung haben. Ich bin überzeugt, daß sie nichts Gutes
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