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Eine Geschichte aus zwei Städten

Eine Geschichte aus zwei Städten

Titel: Eine Geschichte aus zwei Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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enthüllt, aber ein Herz, in dem er tiefe Wunden trägt. Mein Lieber, ich habe es bluten sehen.«
    »Es ist mir ein peinlicher Gedanke«, sagte Charles Darnay erstaunt, »wenn ich ihm unrecht getan habe. Ich hätte das nie von ihm geglaubt.«
    »Mein teurer Gatte, es ist so. Leider wird er nicht mehr zu
ändern sein, und ich gebe kaum der Hoffnung Raum, daß sein Charakter und seine Verhältnisse jetzt noch eine Umkehr gestatten; aber ich bin überzeugt, daß etwas Gutes in ihm liegt und daß er noch edler, sogar hochherziger Handlungen fähig ist.«
    Sie nahm sich in der Reinheit ihres Glaubens an diesen verlorenen Menschen so schön aus, daß ihr Gatte sie hätte stundenlang ansehen mögen.
    »Und, o mein teurer Charles«, drängte sie, indem sie sich inniger an ihn schmiegte, den Kopf an seine Brust legte und die Augen zu den seinen aufschlug, »vergiß nicht, daß wir leicht stark sein können in unserem Glück; er aber ist schwach in seinem Elend.«
    Diese Bitte ging zu Herzen.
    »Ich will es nicht vergessen, meine Liebe. Ich will dessen eingedenk sein, solang ich lebe.«
    Er beugte sich über das goldlockige Haupt, drückte auf die rosigen Lippen die seinigen und umschlang sie mit seinen Armen. Wenn ein verlorener Wanderer, der gerade durch die finsteren Straßen schritt, ihre unschuldigen Enthüllungen hätte hören und mit ansehen können, wie ihr Gatte den Tau des Mitleids von den holden, liebestrahlenden blauen Augen wegküßte, so würde er wohl, und vielleicht nicht nur dieses eine Mal, in die Nacht hinausgerufen haben:
    »Gott segne sie für ihr holdes Erbarmen!«
    Einundzwanzigstes Kapitel
    Widerhallende Schritte
    Wie bereits bemerkt wurde, war der Winkel, in dem der Doktor wohnte, ein wunderbarer Ort für das Echo. Stets emsig bemüht, den goldenen Faden fortzuspinnen, der ihren Gatten, ihren Vater, sie selbst und ihre alte Beschützerin und Gefährtin zu einem Leben voll stillen Glücks verband, saß Lucie in dem stillen Hause in dem ruhigen, dem Echo so zugänglichen Winkel und lauschte auf die widerhallenden Schritte.
    Obwohl sie glücklich war, gab es doch anfangs Zeiten, in denen die Arbeit langsam ihren Händen entsank und ihr Auge sich trübte. Denn in dem Echo klang etwas – es war nur leicht, kaum vernehmlich; aber doch regte es ihr Herz sehr auf. Ein Schwanken zwischen Hoffen und Zweifel – ein Hoffen auf eine Liebe, die ihr zur Zeit unbekannt war, und der Zweifel, ob sie auf Erden bleiben werde, um sich dieser neuen Wonne zu erfreuen, machte ihr oft zu schaffen. Unter den Echogeräuschen erhob sich dann der Hall von Schritten an ihrem eigenen frühen Grabe, und Gedanken an den Gatten, den sie trostlos und in bitterer Trauer um sie zurücklassen mußte, überschwemmten ihre Augen wie Brandungswellen.
    Diese Zeit entschwand, und die kleine Lucie lag an ihrem Herzen. Nun mischte sich unter die näher kommenden Echos der Tritt winziger Füßchen und kindliches Geplapper. Mochten die lauteren Töne sich hervordrängen, wie sie wollten, die junge Mutter an der Wiege hatte nur ein Ohr für jene. Sie kamen, und das schattige Haus wurde sonnig unter dem Lachen des Kindes, und der göttliche Kinderfreund, dem sie es in ihren Ängsten empfohlen hatte, schien wie vor alters das junge Wesen auf seinen Arm zu nehmen, so daß sie eine heilige Freude darüber empfand.
    Immer eifrig an dem goldenen Faden beschäftigt, der sie alle zusammenhielt, und die Gnade ihres glücklichen Einflusses unbemerkt überall einflechtend in das Gewebe ihres gemeinsamen Lebens, hörte Lucie in den Echos der Jahre nur freundliche und beruhigende Laute. Der Schritt ihres Gatten klang darin stark und glückverkündend, der ihres Vaters fest und gleichmäßig. Und siehe, auch Miß Proß in ihrem Schnürleib weckte das Echo wie der ungebärdige Zelter unter der Peitsche, der neben der Platane im Garten schnaubte und die Erde stampfte.
    Selbst wenn Töne des Leides sich unter die anderen mischten, so waren sie nicht hart oder grausam. Sogar als das goldige Haar, dem ihrigen gleich, auf einem Kissen lag und eine Glorie bildete um das abgezehrte Gesicht eines Knaben, das da mit einem strahlenden Lächeln sagte: ›Lieber Papa und liebe Mama, es tut mir leid, euch beide und mein hübsches Schwesterlein zu verlassen; aber ich bin gerufen und muß gehen‹ – sogar damals, als die junge Seele sich den sorglichen Händen, denen sie anvertraut gewesen, entzog, waren es nicht lauter Schmerzenstränen, die die Wange der Mutter benetzten.

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