Eine hinreißende Schwindlerin
niedrigen Kontostand.“
Jenny seufzte, das hatte sie schon öfter zu hören bekommen. „Ich weiß. Als ich das Konto eröffnet habe …“ Sie wollte ihn nicht auf Mr. Sevins Beteiligung daran aufmerksam machen. Wenn dieser Angestellte hier bei Mr. Sevin nachfragen wollte, konnte sie womöglich ewig auf ihr Geld warten. „Damals wurde eine Ausnahme gemacht“, fuhr sie vorsichtig fort. „Das Konto konnte eröffnet werden.“
Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ja, natürlich. Wir alle machen ab und zu Ausnahmen. Theoretisch sind wir zwar nicht dazu befugt, aber nun ja.“ Er zuckte verständnisvoll die Achseln. „Es ist nur so, dass niemand ein Konto mit so niedrigem Kontostand beibehalten will . Das lohnt sich einfach nicht, weil die Kontogebühren die bescheidene Summe vollkommen schlucken würden.“
Jenny wurde beklommen zumute. Bankangestellte verdienten normalerweise nicht besonders viel Geld. Sie würden die zwölf, dreizehn Pfund, die Jenny jährlich einzahlte, niemals „bescheiden“ nennen. „Wie viel habe ich denn noch auf dem Konto?“
„Etwas mehr als ein Pfund“, gab der Mann Auskunft. „Vor ein paar Tagen wurde eine Abhebung vorgenommen. Möchten Sie den Eintrag sehen?“
Jenny wurde schwarz vor Augen. Sie war plötzlich zu keinem klaren Gedanken, nicht einmal zu einem Gefühl mehr fähig. Vor Benommenheit schwankend, hielt sie sich am Banktresen fest. In ihrem Kopf herrschte vollständige Leere.
Wie auf ihrem Konto.
Sie hatte ihre anfängliche Panik unterdrückt, indem sie sich eingeredet hatte, ihr Geld wäre unzugänglich. Nicht verfügbar, aber vorhanden. Ein unerschütterliches Bollwerk gegen den Hunger. Zwölf Jahre eisernen Sparens. Sie hatte sich so mutig gefühlt, die Rolle der Madame Esmeralda aufzugeben, ohne sich Gedanken über ihr zukünftiges Einkommen zu machen. Sie hatte ganz vergessen, welche Panik Geldnot auslösen konnte.
„Etwas ist merkwürdig an diesem letzten Eintrag“, sagte der Bankangestellte gerade.
Was konnte noch merkwürdiger sein als die Tatsache, dass ihr ganzes Geld verschwunden war?
„Normalerweise trägt man die entsprechenden Beträge gestückelt ein, in Pfund, Schillingen und Pence. Wer immer diesen letzten Eintrag vorgenommen hat, hat hier den Betrag komplett in Schillingen zusammengerechnet – genau dreißig. Ich frage mich, warum.“
Judas . Mr. Sevin hatte ihr Konto leer geräumt und ihr dabei gleichzeitig eine Nachricht hinterlassen. Nicht sehr subtil, aber das hatte er wohl auch nicht für nötig befunden, nachdem er ihr vierhundert Pfund gestohlen hatte. Obwohl Jenny nicht genau sagen konnte, wen Mr. Sevin denn nun für den Betrogenen und wen für den Betrüger halten mochte.
Der Bankangestellte sah sie fragend an.
„Wäre es einfacher, wenn ich das Konto jetzt aufheben würde?“
Er nickte und begann, die Münzen abzuzählen. Insgesamt verfügte Jenny jetzt über drei Pfund und ein wenig Kleingeld. Das reichte nicht für die Miete und nicht annähernd dafür, etwas gegen diesen Diebstahl unternehmen zu können. Mit etwas mehr Geld hätte sie vielleicht Einspruch erheben und die Angelegenheit vor einen Richter bringen können. Aber dann befand sie sich in der Defensive; kein vernünftiger Mensch würde ihr ihre Geschichte abnehmen und ihr das Geld zusprechen. Schließlich befand sich der einzige Beweis für Mr. Sevins Niederträchtigkeit in diesen Kontounterlagen vor ihr – ausgestellt auf Madame Esmeralda, betrügerisch unterschrieben von Jenny selbst.
Sie durfte jetzt nicht den Kopf verlieren; sie besaß immer noch Dinge, die sie verkaufen konnte. Das würde für die nächsten Monate reichen. Und danach … nun, ihr würde bestimmt etwas einfallen. Ihr war immer irgendetwas eingefallen. Sie war nicht ruiniert. Sie war nur ein wenig … eingeschränkt.
„Bitte unterschreiben Sie hier“, sagte der Angestellte und schob ihr ein Formular hin. Jenny gehorchte wie in Trance.
Die Münzen in ihrer Hand wogen fast gar nichts. Sie stellten keinen Schutzschild mehr vor einer Zukunft dar, die plötzlich sehr viel beängstigender geworden war.
Irgendwie hatte Ned es über sich ergehen lassen, dass die Bediensteten ihn wuschen und anzogen. Er hatte ganz still dagesessen, als sein Kammerdiener Schaum auf sein Gesicht und seine Kehle aufgetragen hatte. Und er hatte starr geradeaus geblickt, als der Mann angefangen hatte, ihn mit dem Rasiermesser vorzeigbar zu machen für einen Duke und seine Tochter.
Es hätte einfach sein
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