Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Durchschnitt schlechter dran waren als zuvor. Da die Menschen in schmutzigen und verkeimten Siedlungen lebten, die Kinder mehr Getreide und weniger Muttermilch bekamen und jedes Kind mit immer mehr Geschwistern um den Haferschleim konkurrierte, schoss die Kindersterblichkeit in die Höhe. In den bäuerlichen Gesellschaften starb mindestens jedes dritte Kind vor Erreichen des zwanzigsten Lebensjahrs. 29 Doch die Zahl der Geburten nahm immer noch schneller zu als die der Sterbefälle, weshalb die Menschen immer mehr und immer elendere Kinder hatten.
Mit der Zeit wurde der »Weizenhandel« immer beschwerlicher. Die Kinder starben wie die Fliegen, die Erwachsenen aßen ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts. Der Durchschnittsbauer, der vor 10500 Jahren in Jericho lebte, hatte ein deutlich schwereres Leben als der Durchschnittswildbeuter, der tausend oder dreitausend Jahre vor ihm in der Gegend lebte. Aber das bemerkte natürlich niemand. Jede Generation lebte im Grunde genau so wie die ihrer Eltern, nur ein bisschen effizienter. Paradoxerweise summierte sich die Abfolge von »Verbesserungen«, die den Menschen eigentlich das Leben erleichtern sollten, im Lauf der Zeit zu einer drastischen Verschlechterung.
Wie konnten sich die Menschen derart verkalkulieren? Aus demselben Grund, aus dem sich Menschen im Laufe der Geschichte immer wieder verrechneten. Sie waren ganz einfach nicht in der Lage, ihre Entscheidungen mit all ihren Konsequenzen zu überblicken. Jedes Mal, wenn sie sich entschieden, mehr Arbeit zu investieren und zum Beispiel ein Feld zu pflügen, statt die Samen einfach nur auszustreuen, dachten sie: »Wir müssen zwar mehr arbeiten, aber dafür fällt die Ernte umso reichlicher aus! Wir müssen uns keine Gedanken mehr über magere Jahre machen. Unsere Kinder werden nie mehr hungrig einschlafen müssen. Das Leben wird so gut!« Mehr Arbeit für ein besseres Leben. Soweit der Plan.
Der erste Teil des Plans war einfach. Die Menschen arbeiteten mehr. Aber der zweite Teil scheiterte an unvorhergesehenen Wendungen. Die Menschen sahen nicht vorher, dass sie mehr Kinder bekommen würden und dass sie mit der zusätzlichen Ernte nun mehr Münder ernähren mussten. Sie wussten nicht, dass das Immunsystem der Kinder geschwächt würde, wenn sie mehr Haferschleim und weniger Muttermilch bekamen. Sie ahnten nicht, dass sie mit der Abhängigkeit von einer einzigen Nahrungsquelle die Verheerungen einer Dürre deutlich schmerzhafter zu spüren bekommen würden. Und genauso wenig sahen sie vorher, dass in guten Jahren ihre vollen Getreidespeicher Diebe und Feinde anlocken würden, weshalb sie Mauern bauen und Wachen aufstellen mussten.
Aber warum gaben sie den Plan dann nicht einfach auf, als er sich als Bumerang erwies? Zum einen, weil Jahrzehnte ins Land gingen, bevor irgendjemand hätte erkennen können, dass die Dinge nicht nach Plan verliefen und weil sich dann – Generationen später – sowieso niemand mehr erinnerte, dass das Leben jemals anders gewesen war. Und zum anderen, weil das Bevölkerungswachstum jede Rückkehr zum früheren Leben unmöglich machte. Wenn die Dorfbevölkerung dank des Weizenanbaus von 100 auf 110 angewachsen war, welche 10 Menschen wären dann freiwillig verhungert, damit die Übrigen zur Lebensweise der guten alten Zeit zurückkehren konnten? Es führte kein Weg zurück. Die Falle war zugeschnappt.
Der Traum vom besseren Leben fesselte die Menschen ans Elend. Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein: Was das bedeutet, können wir heute am eigenen Leib erfahren. Wie viele junge Menschen haben nicht nach dem Studium eine Stelle in einem großen Unternehmen angenommen und sich geschworen, sie würden ein paar Jahre ordentlich ranklotzen, Geld auf die hohe Kante legen und mit vierzig den Job an den Nagel hängen, um ihren wahren Interessen nachzugehen? Aber wenn der vierzigste Geburtstag naht, haben sie eine Hypothek und schulpflichtige Kinder am Bein und meinen, ohne Mercedes und Bordeaux nicht mehr leben zu können. Was sollen sie tun? Wieder Wurzeln ausgraben? Natürlich nicht. Stattdessen kämpfen sie um eine Beförderung und strampeln sich weiter ab.
Eines der ehernen Gesetze der Geschichte lautet, dass ein Luxus schnell zur Notwendigkeit wird und neue Zwänge schafft. Sobald wir uns an einen Luxus gewöhnt haben, verkommt er zur Selbstverständlichkeit. Erst wollen wir nicht mehr ohne ihn leben, und irgendwann können wir es nicht mehr. Nehmen wir ein Beispiel, das Ihnen bekannt
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