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Eine naechtliche Begegnung

Eine naechtliche Begegnung

Titel: Eine naechtliche Begegnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meredith Duran
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selbst der Grund sein konnte.
    Er trat auf den Treppenabsatz. Die ältere Frau sah ihn stirnrunzelnd an. »Wer ist das?«, fragte sie, während sie sich von Nell freimachte.
    Auch Nell drehte sich zu ihm um, und in ihrem Gesicht sah er etwas Dunkles, Vertracktes und Unversöhnliches. Seine Kehle wurde eng.
    Seit Jahren hatte er nicht einmal mehr ansatzweise seine frühere Unsicherheit gespürt, die Unfähigkeit zu gefallen oder jemanden zufriedenzustellen. Aber in diesem lächerlichen, klapprigen Treppenhaus erinnerte er sich plötzlich tief in seinem Inneren, wie es gewesen war, beurteilt und für ungenügend befunden zu werden.
    Gequält durchforstete er sein Gehirn. Was hatte er nur getan?
    »Das ist mein Mann«, sagte Nell und ging an der Frau vorbei in die Wohnung der Crowleys.
    Hannah legte ihr Strickzeug weg und stand aus dem Schaukelstuhl auf, um Nell zu umarmen. Als Nell ihre Freundin losließ, starrte sie den Stuhl an. Vor nicht einmal acht oder zehn Wochen hatte sie genau dort gesessen (so still wie möglich, denn dem Stuhl hatte schon immer eine Kufe gefehlt) und sich wunderbar wohl gefühlt. Jetzt war ihr alles andere als behaglich zumute. Ihre Haut schien ihr zu klein zu sein, als wäre sie bei all ihrem Elend eingelaufen.
    Simon nahm Hannahs Hand und murmelte irgendwelche leeren Schmeicheleien. Nell schlang die Arme um sich. Sie hatte sich nie gestattet, Dinge zu wollen, die sie nicht haben konnte, und jetzt, da sie wusste, dass sie sich nicht mehr darauf verlassen konnte, Simon zu bekommen, tat ihr sein bloßer Anblick weh. Wenn er nur nicht so gut aussähe – dunkel und schlank und anmutig, selbst in seinen ältesten Klamotten.
    Mrs Crowley hatte auf den ersten Blick gesehen, dass er hier nicht hergehörte. Die Arroganz stand ihm auf die Stirn geschrieben. Für jemanden aus Bethnal Green war offensichtlich, dass man sich vor ihm fürchten musste.
    Nell setzte sich schwer in den Windsor-Stuhl. Ihre Dummheit brannte ihr in der Brust. Um Gottes willen, sie hatte sie für gleichberechtigt gehalten. Sie hatte geglaubt, dass für ihn das gleiche Gesetz galt wie für sie. Ihr verdammtes, kaputtes Gehirn! Wie hatte sie die Lektionen vergessen können, die das Leben ihr erteilt hatte? Für Leute seines Schlags war alles anders.
    Sie hatte ja gewusst, dass es zu schön war, um wahr zu sein.
    Und für ihr gebrochenes Herz war niemand verantwortlich als sie selbst.
    Hannah wollte Simon den Schaukelstuhl anbieten. »Bleib sitzen«, sagte Nell – so barsch, dass alle sie überrascht ansahen.
    »Aber es ist der größte, den wir haben«, sagte Hannah. »Und er hat mich aus dem Gefängnis gerettet, oder?«
    Bei diesen Worten hellte Mrs Crowleys Miene sich auf. »Oh ja, natürlich! Wie dumm von mir, dass ich nicht gleich zwei und zwei zusammengezählt habe. Ich muss Sie wohl auch in die Arme schließen, mein Junge.«
    Über die Schultern der Frau hinweg sah Simon Nell an und zwinkerte ihr zu. Er begriff natürlich nicht, dass er auch einem Stein hätte zuzwinkern können. Er war noch nie jemandem begegnet, der ihm am Ende nicht nachgab.
    Mein Vater hat ihm nicht nachgegeben.
    Der Gedanke gab Nell Kraft. Ja, sie wäre wie ein Stein. Sollte er tun, was er wollte. Denken, was er wollte. Sollte er sie ihretwegen sogar verspotten.
    Die Vision stand ihr plötzlich lebendig vor Augen: seine gemeißelten Lippen, die sich geringschätzig kräuselten, während er sie musterte.
    Gott im Himmel … sie hatte ihm erzählt, dass sie auf Knien gebettelt hatte.
    Sie biss die Zähne zusammen und ballte im Kleid versteckt ihre Fäuste. Ja, das hatte sie ihm erzählt, und wenn er sie deshalb verhöhnte, war es ihr egal. Sie würde ihn auch verhöhnen.
    Er setzte sich in den Schaukelstuhl und sah sich im Raum um, inspizierte ihn, als machte er einen Hausbesuch für einen Wohltätigkeitsverein. Aber die Crowleys brauchten sein Mitleid nicht. Ihre Wohnung hatte drei gut belüftete Zimmer, das größte ging auf das Green selbst. Der frische Wind trug sauber und angenehm den Duft der Pflanzen aus dem Park herein. Nell hatte hier immer gern Zeit verbracht – ein sicherer und geräumiger Ort, gesegnet von einer Familie, die füreinander sorgte.
    Aber als sie Simons Augen folgte, verzerrte seine Anwesenheit ihren Blick. Zum ersten Mal bemerkte sie, wie schäbig die rau verputzten Wände waren, dass der Putz an einigen Stellen abblätterte und an anderen vor Feuchtigkeit vergilbt war. Die groben Dielen passten nicht ganz und rangen

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