Eine Rose im Winter
sie hatte das sichere Gefühl, selbst wenn sie sich auf einem Schiff befände, das sie in den fernsten Winkel der Welt brachte, würde es nicht lange währen, bis die hohen Masten der Fregatte Christina am Horizont auftauchen und sie in rasender Schnelle verfolgen würden.
Erienne hielt den Atem an, als sie langsame Schritte den großräumigen Gang entlangkommen hörte. Sie verhielten minutenlang vor ihrer Tür und verloren sich dann in Richtung auf das Gästezimmer. Ihr war bange, weil er über Nacht Gast in Saxton Hall war und sie damit rechnen mußte, daß er in der Morgendämmerung zu ihr käme. In der Kutsche war sie bereit gewesen, sich ihm hinzugeben, und sie dachte mit Schrecken an seinen Vorsatz, sein Drängen fortzusetzen. Ihr ganzes Sein loderte von dem Feuer, das er gelegt hatte. Sie spürte, wie seine Hände auf ihrem Körper, seine Lippen auf den ihren, seine ganze machtvolle Überredungskraft ihren Untergang bedeuteten. Sie war nicht fähig gewesen, seiner Inbrunst Widerstand zu leisten, und unter seinem zielsicheren Angriff auf ihre Sinne kam ihr Stolz ins Wanken. Es war ihm gelungen, sie in diesen süßen Augenblick der Ekstase zu versetzen, und er wußte ganz genau, was er ihr damit antat, denn für immer würde sie nun nach derselben überwältigenden Seligkeit hungern.
Ein zerrissenes Schluchzen entrang sich ihr, und sie floh von der Tür, um ruhelos, mit den Fingern an ihre Schläfen gepresst, durch den Raum zu laufen. In der Kirche hatte sie den heiligen Eid geschworen, und auch wenn ihre Ehe nicht vollzogen war, so war sie doch durch ihr Wort gebunden, eine gute Ehefrau zu sein. Sie konnte ihren Mann nicht auf solch eine verächtliche Weise betrügen, zumal auch er sie begehrte, sie besitzen wollte, und sie sich vor ihm zurückhielt, ja sogar sich völlig verweigerte. Und wenn er nun käme, würde er feststellen, daß sie Unrecht getan hatte, und was sollte sie ihm dann sagen? Daß sie sich beinahe einem anderen Mann hingegeben hätte?
Ein heftiges Zittern erfasste sie. Ihre Gefühle waren in tausend Fetzen zerrissen, und sie konnte in der Tiefe ihres Inneren keinen Frieden finden. Was ihr Herz ersehnte, stand gegen alles, was sie als ehrbar achtete; doch trotz alledem, was der Anstand verlangte, konnte sie sich nicht abringen zu erfüllen, nämlich Lord Saxtons Frau zu sein, mehr als allein im Namen. Sich seiner Leidenschaft hingeben? Niemals!
Erienne blieb neben dem großen Sessel stehen, in dem Lord Saxton oft saß, und legte ihre zitternde Hand auf die Lehne. Ihr fiel ein, wie überrascht sie gewesen war, als sie ihn das erste Mal berührte. Damals erwartete sie ein überwältigendes Gefühl der Abneigung und war erstaunt, keinen Beweis für einen schwachen und entstellten Körper zu finden. Unter ihren Fingern spürte sie die Wärme, pulsierendes Leben, angespannte feste Muskeln.
Auf irgendeine Weise mußte sie sich beruhigen, ehe sie ihrem Mann unter die Augen treten würde. Sie durfte ihn nicht die Röte der Leidenschaft auf ihren Wangen oder das warme Glimmen des Begehrens in den Augen sehen lassen. Sie hatte Angst, zwischen den beiden Männern einen Konflikt heraufzubeschwören. Jeder war fähig, den anderen anzugreifen, und wenn einer von ihnen verwundet oder gar getötet würde, so wäre ihr Leben für immer belastet von Schuld und Trauer.
Im Haus herrschte Totenstille, nur der Klang einer fernen Glocke, die die zweite Stunde schlug, unterbrach die Stille. Weder kühn daherschreitende Tritte noch stolpernde Schritte näherten sich ihrer Tür; kein leichtes Klopfen an der Tür, aber auch kein Pochen eines Stocks war in der Nacht zu hören. Allmählich überkam sie ein Gefühl der Erleichterung, als ihr klar wurde, daß weder Christopher noch Lord Saxton sich ihrem Zimmer näherten.
Sie wusch die letzten Spuren der Ballnacht ab und hüllte sich in ihr Nachtgewand und den Morgenmantel. Beide Kleidungsstücke bestanden aus dem üblichen durchsichtigen Rüschen- und Faltenstoff, der kaum einer Bezeichnung bedurfte, geschweige denn einer bestimmten Mode angehörte; aber sie waren typisch für Gewänder, die Lord Saxton aussuchte, Erienne ließ sich auf die Bank vor ihrem Toilettentisch sinken, nahm die Bürste und begann, langsam ihr Haar zu bürsten, während sie noch einmal den Abend und die Nacht an sich vorbeiziehen ließ. Tausend Bilder flackerten da auf: der Ball, das großartige Haus von Lord Talbot und dessen Beharrlichkeit, Claudias spöttisches Lächeln; und dann kreisten
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