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Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition)

Titel: Einen solchen Himmel im Kopf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi , Stephanie Gleißner
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Morgendämmerung hinausschauten, in kleinen wendigen Autos herumdüsten und in adretten Kostümen hinter Schreibtischen und Schaltern standen und abends wieder in diese Häuser mit ihrem Fototasseninventar zurückkehrten, um bei den Männern zu sitzen, die uns, sollten wir einmal verlorengehen, suchen würden. Ich zog stärker an der Zigarette, inhalierte den Rauch, bis mir schwindlig wurde.
    »Nach dem Abi gehen wir hier weg, Johanna, wir studieren, egal, was, aber wir müssen hier weg!«
    Ich glaubte zu schreien, glaubte, ich müsse vor einem kollektiven Verbrechen warnen, doch dazu fehlte mir die Luft, ich hechelte. Johanna reagierte nicht. Sie spielte Zirkel, streckte ein Bein von sich und zog mit der Fußspitze Halbkreise in den Kies. Es waren Bannkreise, an denen meine Warnungen abprallten. Ich ließ die Zigarette fallen, trat sie aus. Manhätte es rührend finden können, ein großes Mädchen war auf einmal wieder ein kleines und spielte in sich versunken selbsterfundene Spiele. Doch ich kannte Johanna, eine Wahrheit braute sich hinter diesen Bannkreisen zusammen, eine Wahrheit, die sich bald verkünden würde.

11.
    In der letzten Septemberwoche kamen die Föhnwinde. Sie deckten Häuser ab, entwurzelten Bäume, abgerissene Äste blockierten Straßen, die Holzhaufen am Waldrand kippten um, der Müll aus den öffentlichen Abfalleimern wirbelte durch die Fußgängerzone, die Bänke der Alten vor der Kirche blieben leer. Vereinzelt wagten sie sich doch hinaus. Dann riss ihnen der Föhn die Tücher und Hüte vom Kopf, blähte die dünnen Plastiktüten, in denen sie ihr Fleisch vom Metzger nach Hause trugen, riss die kleinen Schirmchen aus den Blumenkästen, mit denen sie ihre Geranien schützten, und ließ sie in den Abflussrinnen tanzen. Immer dann, wenn sich eine Alte angestrengt bückte, um so ein Schirmchen aufzuheben, zog es ihr der Föhn wieder vor der Nase weg, trieb es einige Meter weiter, hielt still und fuhr wieder unter das Schirmchen, sobald sich die Alte erneut gebückt hatte.
    Der Föhn ist eine anarchische Kraft. Er sorgt für Ereignisse. Die Hinterlandbewohner mögen den Föhn nicht, denn sie mögen keine Ereignisse. Sie mögen ein Leben in der Schneekugel: eine überschaubare Anzahl von Zuständen, die einander abwechseln. Sie mögen die Zeit nicht. Von Steinen umgeben, die ihnen Zeitlosigkeit vorgaukeln, ärgert und beunruhigt sie der Föhn, der alles durcheinanderbringt. Johanna und ich gingen im Föhn spazieren, die Straßen gehörten dann uns. Wir lachten laut über die verwüsteten Vorgärten, die Gartenmöbel, die in die Blumenbeete geschleudert worden waren und abgerissene Blüten unter sich begruben. Jede zerschlagene Dekorglaskugel war ein Triumph, die Unruhe in den Gesichtern, die sich gegen die Fensterscheiben drückten, eine Befreiung. Doch sie hielt nie lange an. Die Hinterlandbewohner haben ein Gespür dafür, wann sich die Kraft der Winde erschöpft hat. Sie kämpfen nicht, sie können warten. Sobald der Föhn zusammengebrochen ist, stehen sie bereit, jeder hinter seinem eigenen Gartenzaun, mit seinem eigenen Arsenal an Schaufeln, Besen und Seilwinden. Die Aufräumarbeiten ziehen sich, wenn es sein muss, bis in die Nacht hin. Sie sind unermüdlich. Sie können nicht schlafen, ehe nicht alle Schäden behoben sind, jede Veränderung getilgt ist. Im Hinterland soll immer alles so sein, wie es immer schon war.
    An einem dieser Föhnmorgen, an denen herrenlose Plastiktüten Pirouetten drehten, trat Frau Luger aus der unscheinbaren Eingangstür der Pension Malinowski. Die rotgeschminkten Lippen und die schwarze Nylon-Reisetasche, deren Riemen sie in einer Hand zusammenfasste, waren die Requisiten ihres Morgens. Sie erklärten sie so vollkommen, wie ihre Sprache es nicht vermocht hätte. Stumm stand sie auf dem Parkplatz, blickte sich um, war verwundert, war gerade durch einen Brunnen geschlüpft und so in eine Welt gelangt, deren Beschaffenheit und Regeln sie zwar noch nicht kannte, von der sie aber schon jetzt wusste, dass es eine gute, eine andere Welt war. Ein Wüstenwind wirbelte ihren Rock auf, sie setzte die Reisetasche ab und versuchte, ihn mit beiden Händen niederzudrücken. Doch sobald sie es geschafft hatte, ihre Oberschenkel zu bedecken, fuhr ihr der Wind von hinten unter den Rock, und wenn sie dann den Stoff über ihren Hintern gestrichen hatte, war sie vorne wieder unbedeckt. So ging es einige Male, bis der Vorwerkvertreter aus der Tür trat. Auch er trug Reisegepäck, doch

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