Eisprinzessin
leben immer noch Menschen hier in der Zone. Von der Welt verlassen, von den Behörden aufgegeben. Ein altes Mütterchen streckt den Kopf heraus. Sie ist ganz grau, ein schwarzes Kopftuch mit verblassten roten Blumen fasst ein faltiges bäuerliches Gesicht mit breiter Nase ein. Ihren wattierten Mantel mit den aufgenähten Flicken trägt sie wie einen Schutzanzug. Sie dreht den Kopf zu ihm. Er hebt die Hand, aber sie reagiert nicht. Die Strahlenwerte auf dem Display ihres Messgeräts prüfend, folgt die Motorradfahrerin der Alten ins Haus.
Schwarzes Feld oder weißes. Die Zone ist wie ein Schachbrett. Es gibt Felder, die so stark verstrahlt sind, dass Menschen dort nicht lange überleben können. Auf den weißen Feldern hält man’s länger aus. Nicht jeder. Sie leben von dem, was der Boden gibt, was sie in den Wäldern finden, die hier in ein paar Jahren alles überwuchert haben werden. Die Bäume wachsen durch Fußböden und sprengen irgendwann die Dächer, wenn sie nicht von selbst einstürzen. Auch im Asphalt tun sich Trichter auf, aus denen kleine Bäume wachsen. Für Autos sind manche Strecken schon unpassierbar geworden. Die Verrückte auf ihrem Motorrad kann noch ausweichen und Hindernisse umfahren. Irgendwann wird sie absteigen müssen. Wenn sie dann überhaupt noch fährt.
Was hat sie der Alten mitgebracht? Essen kann es nicht sein, und wenn, dann nur eine mickrige Portion. Das Säckchen war klein, sah aus wie eine Tüte aus der Apotheke. Bestimmt ist die Alte krank oder ihr Mann, der vielleicht auch noch hier lebt.
Wiktor geht zu der Scheune, in der er den Schatten gesehen hat. Er horcht. Ist da ein leises Schaben, oder bildet er sich das nur ein? Ein Bewegen von Stroh oder Heu. Als er einen Schritt ins Halbdunkel macht, springt ihn etwas an und streift ihn an der Hand. Das Tier ist so schnell im Gebüsch verschwunden, dass er nicht erkennen kann, was es gewesen ist: Katze, Marder, Frettchen oder eine riesige Ratte. Er saugt an dem blutenden Kratzer an seiner Hand und spuckt das Blut aus. Dann geht er zum Haus und schaut durchs Fenster, das noch intakt ist.
Das Mütterchen und die Motorradfahrerin sitzen am Tisch, auf dem einige Tablettenpäckchen liegen, daneben ein brauner DIN-A 5-Umschlag. Die Alte schiebt ihn mit ihren Pergamenthänden zu der Motorradfahrerin hinüber. Bevor die den Umschlag öffnet, sieht sie zum Fenster und gibt ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich verziehen soll. Na, die ukrainische Gastfreundschaft hat jedenfalls auch Schaden genommen mit der Katastrophe.
Wiktor geht ein paar Schritte und legt sich dann neben das Motorrad auf die Straße. Die Strahlung ist durch den Asphalt in die Erde gedrungen. Es ist besser, auf dem Asphalt zu liegen als auf dem Waldboden. Der Himmel ist unbarmherzig leer.
»Los, wir fahren«, sagt die Motorradfahrerin und kickt ihn mit ihrem Stiefel in die Seite. Wiktor rappelt sich auf und sieht die Alte in ihrem kleinen Vorgarten stehen, eine Hand auf die einzige verbliebene Zaunlatte gestützt. Die Motorradfahrerin bemüht sich, lässig zu wirken, aber Wiktor sieht, dass sie die Augen zusammenkneift.
»Sie wird sterben«, sagt er.
Sie antwortet: »Alle werden wir sterben, irgendwann.«
»Ja, aber sie stirbt bald.«
Sie setzt den Helm auf, dann dreht sie sich zum Haus und winkt der Alten, die regungslos dort steht und sie beobachtet. Schließlich startet das Motorrad, die junge Frau fährt los, und Wiktor spürt, wie sie schluchzt.
Sie fahren einige Kilometer durch den Wald. Efeuranken kriechen wie Zündschnüre über den Asphalt. Sie fährt nun langsamer. Ihre Lust auf Geschwindigkeit scheint ein wenig abgekühlt.
Als sie aus dem Wald kommen, zeigt der Geigerzähler kaum Radioaktivität an, und die Frau bleibt stehen. Sie nimmt den Helm ab, und Wiktor sieht, dass ihre Augen rot sind vom Weinen. Und trotzdem lacht sie.
»Die Alte, ich trau ihr alles zu. Vielleicht lebt sie noch ein Jahr, die ist verdammt zäh, du hast ja keine Ahnung.«
Wiktor nickt. »Ja, vielleicht.«
»Ich fahre nach Kiew. Wenn du willst, kannst du mitfahren. Ob ich dich nun beim Posten abgebe oder dich noch bis Kiew am Hals habe, ist jetzt auch schon egal.«
»Gut, ich fahre mit nach Kiew. Dort lade ich dich ins Café Puschkin ein. Einverstanden?«
Sie setzt ihren Helm wieder auf.
»Ich heiße Wiktor.« Er weiß nicht, ob sie ihn gehört hat. »Wie heißt du?«, fragt er.
»Was?«
»Wie du heißt, will ich wissen!«, schreit er.
»Luba.«
Sie startet
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