Ekel / Leichensache Kollbeck
verzweifeltes Kind und macht ihr eine Liebeserklärung nach der anderen. Gisela fühlt sich bedrängt, sieht sich seinem erbärmlichen Zustand hilflos ausgeliefert. Sie ergreift die Initiative erst wieder, nachdem er mehrere Gläser Wodka in sich hineingeschüttet hat und nimmt ihm die Flasche weg: „Genug! Du mußt noch fahren!“
Bald verabschiedet sich Dalgow. Gisela empfindet diesen Augenblick als Befreiung aus einer beängstigenden Lage. Der Alkohol in seinem Hirn beeinträchtigt jedes weitere vernünftige Denken. Denn bevor er geht, sagt er einen Satz, dessen Bedeutung sie erst später begreifen wird: „Unser Leben ist eine Oper. – Erster Akt: Liebe! Letzter Akt: Tod!“
Eine Stunde später parkt er sein Auto am Rande einer illegalen Mülldeponie in der Nähe von Kablow, stellt den Motor ab, bleibt am Steuer sitzen. Nun zeigt der Alkohol vollends seinen vernichtenden Einfluß: Im Zeitraffer zieht er Bilanz, gelangt zu dem Schluß, daß sein Leben ein einziges Fiasko ist. Jetzt bringt er keine Kraft mehr auf, es fortzusetzen.
Als die Dämmerung hereinbricht, zieht Hauptmann Dalgow seine Dienstpistole und entsichert sie. Er zieht mit kräftigem Ruck den Verschluß zurück und läßt ihn los. Mit einem deutlichen Klick schnappt dieser wieder nach vorn: Das Projektil steckt nun im Lauf. Augenblicke später setzt Dalgow die Waffe an die rechte Schläfe und drückt ab.
Er kann nicht mehr spüren, wie das Projektil seinen Schädel durchdringt, das Stirnhirn zerfetzt, ehe es an der linken Schläfe wieder austritt und irgendwo in der Borke eines Baumes stecken bleibt.
Noch bevor am nächsten Morgen die Fahndungsmaßnahmen anlaufen, finden Bauarbeiter zufällig seine Leiche.
Die polizeilichen Ermittlungen verlaufen zügig. Es besteht kein Zweifel an der Selbsttötung: Selbstverschuldete Konflikte und die Unfähigkeit, sie zu bewältigen, führten – begünstigt durch die erhebliche alkoholische Beeinflussung von 1,9 Promille – zu einer unaufhaltsamen Todessehnsucht.
Natürlich sagen die Polizeiprotokolle im vorliegenden Fall nichts über Dalgows Gefühle, Empfindungen und Überlegungen aus. Er hatte weder einen Abschiedsbrief noch andere Aufzeichnungen hinterlassen, die Aufschluß über sein Gefühlsleben geben könnten. Die Untersuchungen beschränkten sich auf die gerichtsmedizinischen und ballistischen Befunde sowie auf die Vernehmung der Ehefrau Jutta Dalgow, seiner Geliebten, der Schneidermeisterin Gisela Hoppe und seiner Tochter, der Krippenerzieherin Tamara Dalgow sowie Militärangehörigen aus dem Nachrichtenregiment. Schließlich war nur zu beweisen, daß Dalgow seinen Tod selbst verursacht hat.
Jedoch ließen sich aus der Persönlichkeit des Getöteten und den von den Zeugen geschilderten Ereignissen die motivationalen Umstände und tatauslösenden Anlässe rekonstruieren. Dies wiederum bildete die Grundlage dafür, Dalgows Gedanken- und Gefühlswelt nachzuempfinden.
Die Benutzung einer Schußwaffe als Tötungsinstrument hatte in der DDR lediglich Ausnahmecharakter. Durch strenge gesetzliche Bestimmungen, deren Grundgedanke auf die sog. Kontrollratsgesetze des Jahres 1945 zurückgeht, und das darauf aufbauende polizeiliche Erlaubniswesen über den Besitz und Umgang mit Schußwaffen und Munition wurde ein engmaschiges System der erlaubten Waffenträgerschaft (ausschließlich für Angehörige der sog. bewaffneten Organe, höhere Staats- und Parteifunktionäre und Jäger) geschaffen, das den unkontrollierten Umgang mit Schußwaffen weitgehend einschränkte. Daraus ergab sich, daß vorsätzliche Tötungen mittels Schußwaffen absoluten Ausnahmecharakter besaßen. Alle anderen Tötungen waren überwiegend Unfälle, in geringerem Maße jedoch auch Suizide
.
Bei letzteren liegen in der Regel sog. absolute (Waffe wird direkt aufgesetzt) oder relative Nahschüsse (nur geringer Abstand zur Einschußstelle) vor. Bevorzugte Angriffsstelle ist der Kopfbereich, seltener die Herzgegend. Beim Mundschuß kommt es zu ausgedehnten Zerreißungen des Gewebes. Verletzungen des Stammhirns führen zumeist schlagartig zum Tode, während bei anderen Schußverletzungen des Kopfes die Handlungsfähigkeit durchaus eine Zeitlang erhalten bleiben kann. Gegenüber den gesetzlich definierten Schußwaffen besaßen die sog. Schußgeräte (gewerbliche Bolzenschuß- und Tierbetäubungsapparate) als Tötungsmittel eine größere forensische Bedeutung. Insgesamt wurden in der DDR knapp 1,5 Prozent der vollendeten Suizide durch
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