Elben Drachen Schatten
Geistergesichter darstellten.
Hell und dunkel.
Licht und Finsternis.
Ein geflügelter Affe aus Gold und ein geschrumpfter Totenkopf.
Scheinbare Gegensätze, in Wahrheit nur verschiedene Aspekte ein- und desselben …
Ein Geräusch riss Magolas aus seinen Gedanken. Das Bild vor seinem inneren Auge war plötzlich nicht mehr da. Er drehte sich um, blickte den Gang entlang und hörte Schritte. Wenig später bog eine Gestalt um die Biegung des Ganges. Sie trug eine Fackel, deren flackernder Schein das Gesicht Prinz Sandrilas' beleuchtete.
»Ihr?«, fragte Magolas.
»Euer Vater hat mich vorgewarnt, dass Ihr versuchen könntet, an die Zauberstäbe des Augenlosen Sehers zu gelangen.«
»Ich hätte die Tür nicht geöffnet. Sie ist verschlossen, und hätte ich das Schloss dennoch aufbekommen, hätte mein Vater dies bemerkt.«
»Das sagt Ihr jetzt, da ich Euch hier angetroffen habe, Magolas«, erwiderte Sandrilas und machte einen weiteren Schritt auf den Königssohn zu.
»Es ist die Wahrheit!«, behauptete Magolas, eine Spur zu heftig, um glaubhaft zu sein – vielleicht, weil er sich selbst einzureden versuchte, dass er dem Drang hätte widerstehen können.
Sandrilas reagierte nicht auf den Ausfall des jungen Elbenprinzen. Stattdessen sagte der Einäugige: »Ihr würdet mit diesen Zauberstäben auch kaum etwas anfangen können. Thamandor der Waffenmeister brachte nicht einmal nach einer Überdosis vom Extrakt der Sinnlosen die nötige mentale Kraft auf, um Zugang zur Magie dieser unseligen Artefakte zu erhalten. Stattdessen hat ihn dieses Experiment beinahe den Verstand gekostet und hätte ihn wahrscheinlich sogar umbringen können.«
»Mein magisches Talent ist größer als das von Waffenmeister Thamandor«, sagte Magolas im Brustton der Überzeugung. »Vielleicht denkt Ihr, dass ich mich überschätze, aber meine Kraft ist nur mit der meines Bruders Andir vergleichbar. Ich habe diesen Umstand nie nach außen gekehrt, noch habe ich Aufnahme in die Gilde der Magier oder in den Orden der Schamanen begehrt. Aber ich habe mich in all den Jahren ebenfalls in der Magie vervollkommnet.«
Magolas atmete tief durch. Sein Blick wurde finster. »Ich verstehe meinen Vater nicht«, murmelte er. »Warum lässt er mich die Kraft dieser Stäbe nicht nutzen? Man könnte so viel Gutes für unser Volk damit bewirken.«
»Ihr solltet seine Entscheidung respektieren«, sagte Sandrilas. »Der Magie des Augenlosen Sehers haftet etwas zutiefst Böses an, Magolas. Ich weiß es, denn ich trat diesem Ungeheuer einst gegenüber. Euer Vater sorgt sich um Euch – und um sein Volk. Geht jetzt, mein Prinz.«
»Eins noch, Prinz Sandrilas!«
»Was?«
»Werdet Ihr meinem Vater davon berichten, dass Ihr mich hier angetroffen habt?«
Prinz Sandrilas bedachte Magolas mit einem langen, nachdenklichen Blick. »Ihr habt nichts getan, was Euer Vater verboten hätte«, stellte er fest. »Es gibt also auch nichts, was ich ihm berichten müsste.«
Daraufhin nickte ihn Magolas wortlos zu. Vielleicht war es eine Geste der Dankbarkeit, vielleicht des Respekts oder auch nur eine Verabschiedung, denn danach verließ er das Gewölbe, wie Sandrilas ihm geheißen hatte
Der einäugige Elb blieb allein zurück. Nein, der junge Prinz hatte nicht gegen das Verbot seines Vaters verstoßen. Dennoch ― Sandrilas war sich fast sicher, dass er es getan hätte, wäre er nicht hinzugekommen. Er kannte den Drang des Bösen, wusste, dass es einen Elben, selbst einen so alten und erfahrenen wie ihn, innerhalb eines Augenblicks ganz und gar in seinen Bann schlagen konnte.
An seiner Hüfte in der Scheide steckte sein Schwert Düsterklinge, mit dem er den Augenlosen Seher enthauptet hatte. Dieses Schwert gemahnte ihn daran, dass auch er nicht gefeit war gegen den Drang des Bösen …
Als Keandir nach Elbenhaven zurückkehrte, eilte Ruwen zu den Anlegestellen am Hafen, um ihren Gemahl zu empfangen. Um schneller vom Inneren Burghof zum Hafen zu gelangen, schwang sie sich auf den ungesattelten Rücken ihres Schimmels Wolkenstrahl, der aus jener Zucht stammte, die Branagorn begonnen hatte. Ein elbischer Reiter brauchte mit etwas Übung weder Sattel noch Zügel, um sein Pferd zu lenken; unter Elben galten diese Dinge eher als Hilfsmittel für Reiter, die nicht genügend Zeit gefunden hatten, ihr Pferd an sich zu gewöhnen. Eine geringe geistige Anstrengung reichte aus, um selbst ein Tier, das nicht aus Elbenzucht stammte, ohne Zaunzeug reiten zu können. Über die nötige
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