Elegie - Herr der Dunkelheit
»Hohe Frau Lilias.« Den Helm unter den Arm geklemmt, sah er sie an. Sein Gesicht war ausgemergelt, und unter seinen Augen lagen dicke Tränensäcke. Er hatte ihr seit seiner Geburt gedient, wie auch sein Vater und der Vater seines Vaters vor ihm. »Ihr habt mich rufen lassen, und hier bin ich.«
»Gergon.« Ihre Finger krümmten sich um die Armlehnen des Stuhls. »Wie steht die Schlacht?«
Er deutete zur Mauer. »Nun, wie Ihr sehen könnt …«
Unter ihnen eilten die Ameisen hin und her, und jene innerhalb der Mauern beeilten sich plötzlich, von dem Bauwerk wegzukommen.
Ein lautes Krr-ackk! war zu hören, und ein Netz feiner Linien wurde auf einem Mauerstück sichtbar; die einzelnen Bestandteile traten hervor. Lilias wurde starr auf ihrem Stuhl, schloss die Augen und beschwor die Kraft des Soumanië. In ihrem Kopf sah sie ihre Mauer unbeschädigt und leuchtend, und sie richtete ihren ganzen Willen darauf. Sie gestaltete die Mauer, schob die flachen Glimmerbrocken hin und her, setzte kristalline Quarzstücke neu zusammen, bis sie wie ein Aderwerk durch einen einzigen, festen Block flossen. Was sie sah, gestaltete sie und hielt es fest.
Es folgte eine Pause, und dann ging das Dröhnen der Rammböcke weiter.
Lilias beugte sich vor und keuchte. »Das hätten wir!«
»Herrin.« Gergon sah zur Belagerung hinunter und wischte sich den Schweiß von der Stirn, und in dem Seufzer, den er ausstieß, lag keine Erleichterung. »Vergebt mir, aber es ist die dritte dieser Breschen heute Morgen, und ich merke, dass Ihr allmählich erschöpft seid.« Seine Stimme war heiser. »Ich bin erschöpft. Meine Männer sind erschöpft. Wir sind hungrig. Wir werden Beschtanag bis zum
Tod verteidigen, nur …« Die Muskeln seines wettergegerbten Halses bewegten sich, als er schluckte; gesundes Fleisch, nun durch Entbehrungen und Müdigkeit schlaff geworden. »Drei Tage, habt Ihr gesagt. Heute ist der vierte. Wo sind sie?«
Lilias, du musst es ihm sagen.
»Ich weiß.« Sie erschauerte. »Ach, Calandor! Ich weiß.«
Vor ihr stand Gergon, und ein hastiger Atemzug wurde zum Husten, als sich eine fürchterliche Gewissheit in seinen Augen abzeichnete. Er sah zu seinen Männern hinunter, seine Schultern hingen herab, und dann blickte er wieder zu ihr. »Sie kommen nicht«, sagte er. »Nicht wahr?«
»Nein«, sagte sie leise. Mit Mühe richtete sich Lilias in ihrem Stuhl auf und stellte sich seinem Blick, da sie wusste, dass er zumindest das verdiente. »Ich habe gelogen. Es tut mir leid. Irgendetwas geschah im Marasoumië. Ich dachte …« Sie senkte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich dachte. Nur, dass es irgendwie am Ende doch nicht so weit kommen würde. Gergon, es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
Ein Geräusch erklang, zwei verschiedene Geräusche. Sie schienen zunächst irgendwie miteinander verbunden – der verstärkte Aufprall des Rammbocks, Radovans immer lauter werdender Schrei. Er stürzte sich auf sie, aus seinen glühenden Augen blickte nun geradezu der Wahnsinn, und er hielt das Obstmesser hoch über seinem Kopf erhoben. Sarikas schriller Schrei vermischte sich mit Gergons verspätetem, protestierendem Ruf.
Lilias reagierte, ohne nachzudenken.
Der Soumanië auf ihrer Stirn erwachte flammend zum Leben und tauchte die Szene in einen glühend roten Schein. Sie ließ alle Verbindungen zur Mauer fahren, beschwor den Soumanië und warf Radovan ihre gesamte verbliebene Stärke entgegen, gestaltete den Puls seiner Lebenskraft ebenso, wie sie die Quarzadern gestaltet hatte. Radovan wurde mitten im Zuschlagen steif, seine freie Hand glitt an seine Kehle, an das silberne Halsband, das er trug, das Zeichen ihres Willens, das sein Leben bestimmte. Sonnenlicht glänzte auf der Schneide des Obstmessers und warf einen hellen Streifen Licht
auf ihr Gesicht. Wann hatte er es gestohlen? Wie lange schon hatte er das hier geplant? Sie hätte es wissen müssen, lange schon hätte sie ihn freilassen müssen! Wenn er sie doch nur gebeten, wenn er doch nur von seinem Unmut gesprochen hätte … aber nun war es zu spät. In ihrer aufwallenden Angst vergaß sie achtlos alles andere, konzentrierte die Macht des Soumanië auf ihn, bis sein Herzschlag verebbte und erstarb.
Die leblosen Knie gaben nach, und Radovan sank zu Boden.
Am Fuß des Berges erschollen laute Rufe.
Ein wildes Krachen erschütterte die Wälder von Pelmar, und ein Stück ihrer Mauer brach zusammen, löste sich unwiederbringlich in einzelne Stücke, Schotter und roh
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