Elementarteilchen
Molekularbiologie zu koordinieren. Diese so unterschiedlichen Lebensweisen hatten nur wenige sichtbare Spuren auf ihren jeweiligen Körpern hinterlassen; aber das Leben selbst hatte sein zerstörerisches Werk vollzogen und langsam die Replikationsfähigkeiten ihrer Zellen und Zellorganellen herabgesetzt. Als intelligente Säugetiere, die sich hätten lieben können, betrachteten sie sich in der großen Helligkeit dieses Herbstmorgens. »Ich weiß, daß es ziemlich spät ist«, sagte sie. »Aber ich habe trotzdem Lust, es zu versuchen. Ich habe noch meine Schülerkarte für die Bahn aus dem Schuljahr 74/75, dem letzten Jahr, in dem wir gemeinsam aufs Gymnasium gegangen sind. Jedesmal, wenn ich sie ansehe, würde ich am liebsten weinen. Ich verstehe nicht, wieso die Dinge so beschissen verlaufen sind. Ich kann es einfach nicht glauben.«
19
Inmitten des Selbstmords der westlichen Welt war es klar, daß sie keine Chance hatten. Dennoch trafen sie sich weiterhin ein- oder zweimal in der Woche. Annabelle ging zu einem Gynäkologen und begann wieder die Pille zu nehmen. Michel gelang es, sie zu penetrieren, aber am liebsten war es ihm, wenn er einfach neben ihr schlief und ihr lebendiges Fleisch spürte. Eines Nachts träumte er von einem Erlebnispark in Rouen auf dem rechten Seineufer. Ein fast leeres Riesenrad drehte sich vor dem aschgrauen Himmel und überragte die Silhouetten von gestrandeten Frachtdampfern mit rostzerfressenen Metallaufbauten. Er ging zwischen Baracken in stumpfen und zugleich grellen Farben her; ein eisiger, regnerischer Wind peitschte ihm ins Gesicht. Als er gerade den Ausgang des Parks erreichte, wurde er von Jugendlichen in Lederkleidung angegriffen, die mit Rasierklingen bewaffnet waren. Nachdem sie ihm einige Minuten lang hart zugesetzt hatten, ließen sie ihn laufen. Seine Augen bluteten, er wußte, daß er für immer blind sein würde, und seine rechte Hand war halb abgetrennt; aber gleichzeitig wußte er, daß Annabelle trotz des Bluts und des Leidens an seiner Seite bleiben und ihn ewig mit ihrer Liebe umgeben würde.
Zu Allerheiligen fuhren sie am Wochenende gemeinsam nach Soulac in das Ferienhaus von Annabelles Bruder. Am Morgen nach ihrer Ankunft gingen sie gemeinsam an den Strand. Er fühlte sich müde und ließ sich auf einer Bank nieder, während sie den Spaziergang fortsetzte. Das Meer donnerte in der Ferne, rollte silbergrau und schwankend heran. Die sich auf den Sandbänken brechenden Wellen erzeugten im Sonnenschein einen schönen glitzernden Dunst am Horizont. Annabelles Silhouette, die in ihrer hellen Windjacke kaum zu erkennen war, ging an der Wasserfläche entlang. Ein alter Schäferhund lief zwischen den weißen Plastiktischen und -stühlen des Strandcafés hin und her, auch das Café war nur schlecht zu erkennen und wirkte im Dunst aus Luft, Wasser und Sonne verschwommen.
Zum Abendessen grillte sie einen Seebarsch; die Gesellschaft, in der sie lebten, gewährte ihnen einen gewissen Überschuß hinsichtlich der bloßen Befriedigung ihrer Nahrungsbedürfnisse; sie konnten also versuchen zu leben; aber in Wirklichkeit hatten sie kaum noch Lust dazu. Er empfand Mitgefühl für sie und für die großen Liebesreserven, die, wie er spürte, in ihr bebten und die das Leben verdorben hatte; er empfand Mitgefühl, und das war vielleicht die einzige menschliche Empfindung, die sein Herz noch rühren konnte. Ansonsten war sein Körper von einer eisigen Zurückhaltung erfüllt; er konnte wirklich nicht mehr lieben.
Als sie wieder in Paris waren, erlebten sie ein paar frohe Momente, wie man sie aus der Parfürnwerbung kennt (gemeinsam die Treppen von Montmartre hinablaufen; oder eng umschlungen auf dem Pont des Arts stehenbleiben, der plötzlich von den Scheinwerfern der Seinedampfer erleuchtet wird, während die Schiffe wenden). Sie erlebten auch die kleinen Meinungsverschiedenheiten am Sonntagnachmittag, die Augenblicke der Stille, in denen sich der Körper unter den Bettlaken zusammenrollt, die Zeiträume der Stille und Langeweile, in denen sich das Leben auflöst. Annabelles Appartement war düster, ab vier Uhr nachmittags mußten sie das Licht einschalten. Sie waren manchmal traurig, aber vor allem waren sie ernst. Sie wußten beide, daß sie zum letzten Mal in ihrem Leben eine richtige menschliche Beziehung hatten, und dieses Gefühl verlieh jeder Minute, die sie zusammen verbrachten, etwas Herzzerreißendes. Sie achteten sich gegenseitig sehr und empfanden tiefes Mit-
Weitere Kostenlose Bücher