Elfenblut
Eltern in eine fremde Welt gebracht wurde. Und in eine besonders sichere dazu. Einen besseren Ort für ein Kind als die Favelas gibt es ja schließlich kaum … jedenfalls solange die Idioten von der Stadtverwaltung nicht wieder ein paar Killerkommandos losschicken, die Jagd auf Slumkinder machen.«
»Jaja, ist schon gut«, sagte Pia.
»Andererseits könnte ich es auch sein«, sinnierte Alica.
Pia drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an.
»Doch, doch.« Alica nickte heftig. »Ich bin auch ein Waisenkind, genau wie du. Wusstest du das nicht? Ich habe keine Ahnung, wer meine Eltern sind. Allerdings bin ich im Gegensatz zu dir in einem dreckigen Waisenhaus am Rande der Favelas aufgewachsen, in dem es keinen Strom und nur kaltes Wasser gegeben hat und nicht einmal jeden Tag etwas zu essen.«
»Mir bricht das Herz.«
»Braucht es nicht«, sagte Alica. »Ich wollte dir nur zeigen, wie leicht man sich etwas zusammenreimen kann, wenn man will.«
Pia versuchte, sie zornig anzufunkeln, doch es gelang ihr nicht. Für ihren Geschmack hatte Alica in letzter Zeit eindeutig ein bisschen zu oft recht, wenn es um solche Dinge ging. Nach einigen weiteren, endlosen Sekunden, in denen sie sie nur mit einer Mischung aus Trauer und einem immer stärker werdenden Ärger, der viel mehr ihr selbst als der jungen Frau galt, angestarrt hatte, hob sie die Schultern und sagte noch einmal: »Ich werde ihn mir ansehen. Jetzt.«
»Jetzt?«, wiederholte Alica. »Ich kann mich täuschen, aber hat Brack uns nicht befohlen, hier auf ihn und Istvan zu warten?«
»Ich kann mich ebenfalls täuschen«, erwiderte Pia, »aber seit wann lässt du dir von irgendjemandem etwas befehlen?«
»Netter Versuch«, sagte Alica. »Aber so, wie die Dinge liegen, sollten wir im Moment vielleicht besser …«
»Es ist deine Entscheidung«, unterbrach sie Pia. Ohne ein weiteres Wort und mit schon etwas mehr als nur sanfter Gewalt schob sie Alica aus dem Weg, öffnete die Tür und war schon halb die Treppe hinunter, bevor Alica ihre Überraschung überwand und sich ihr anschloss.
»Dann sei wenigstens so vernünftig und nimm das hier«, sagte sie. Pia hielt zwar nicht im Schritt inne, sah aber zu ihr zurück und bemerkte einen hellen Stofffetzen, mit dem Alica aufgeregt herumwedelte. Er sah aus, als hätte sie ihn aus der Bettwäsche herausgerissen – was sie wahrscheinlich getan hatte. Pia hätte nicht übel Lust gehabt, ihn als Knebel zu verwenden, um sie damit endlich zum Schweigen zu bringen, verstand aber, was Alica meinte, und musste ihr – wieder einmal – widerwillig im Stillen recht geben. Am Fuße der Treppe angelangt, entriss sie ihr den Fetzen, raffte mit der linken Hand ihre Haare zusammen und versuchte ihn mit der anderen unter dem Kinn zu knoten, um ein Kopftuch zu improvisieren. Erst als Alica ihr half, gelang es ihr wirklich.
Lasar tauchte wieder aus den Schatten hinter der Theke auf und starrte sie genauso fasziniert und erschrocken wie vorhin an, aber er sah zugleich auch ziemlich unglücklich aus, fand Pia. Sie gab ihm keine Gelegenheit, auch nur ein einziges Wort zu sagen, sondern schlug die Kapuze ihres Umhanges hoch und riss die Tür auf. Blindlings stürmte sie los, überquerte die Straße fast zur Gänze und blieb erst wieder stehen, als sie sich schon einen halben Block vom Weißen Eber entfernt hatte. Alica holte zu ihr auf und machte ein Gesicht, als ärgere sie sich über ein ganz besonderes störrisches Kind, sparte sich aber zu Pias Erleichterung jeden Kommentar.
Wahrscheinlich hätte sie ihr auch dieses Mal recht geben müssen.
Erst jetzt spürte sie die Kälte, die die Stadt in ihrem eisigen Griff hatte. Der Boden, auf dem sie standen, war hart gefroren (und das sollte der Sommer sein, von dem Brack gesprochen hatte?), und selbst das Luftholen begann schon wieder wehzutun.
Außerdem wurden sie auch diesmal angestarrt.
Pia fragte sich, ob es vielleicht an ihrer für die Menschen in dieser Stadt so ungewohnten Eile lag, oder ob ihre und Alicas Größe auffielen – oder die Neuigkeit von ihrem Auftauchen hier bereits die Runde gemacht hatte. Mindestens ein Dutzend Männer und Frauen blickten sie an, auch wenn sie hastig wieder wegsahen oder so taten, als wären sie in ein intensives Gespräch mit einem anderen oder die Betrachtung der Auslagen eines der zahlreichen kleinen Geschäfte vertieft, die die Straße säumten. Die Kinder – deren große Anzahl ihr abermals auffiel – kannten solche Hemmungen nicht und
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