Elfenlicht
Jahre dauerte es, bis ein Trollwelpe zum Jungkrieger heranwuchs, aber einen toten Elfen zu ersetzen mochte hundert Jahre und mehr dauern.
Das hohe Tor zum Thronsaal schwang wie von Geisterhand auf. Die Kommandantin der Wache nickte Obilee zu, und ihr prächtiger weißer Rosshaarbusch wippte auf dem schimmernden Bronzehelm. »Die Herrin erwartet dich.«
Obilee klemmte den eigenen Helm fest unter den Arm. Ihre Hand lag auf dem Knauf ihres Schwertes. Das Kettenhemd lastete schwer auf ihren Schultern, und die Nachricht, die sie überbringen musste, lastete auf ihrem Herzen. Mit festem Schritt trat sie vor den Thron.
Emerelle erwartete sie aufrecht stehend wie eine Kriegerin in der Schlachtreihe den Ansturm der Feinde. Leise rauschte das Wasser, das in endlosen Kaskaden die Wände des Thronsaals hinabströmte. Die Luft war feucht und angenehm kühl.
Die Königin trug ein eisgraues Kleid mit hohem Kragen undlangen, glatten Ärmeln. Es war von schlichtem Schnitt und betonte ihre schmalen Hüften. Sehr zierlich wirkte sie, und wer sie nicht selbst schon im Fechtsaal erlebt hatte, der hätte in dieser zerbrechlichen Frau niemals die Kriegerin erahnt. Das dunkelblonde Haar wurde von einem dünnen, silbernen Stirnreif gehalten. Die hellbraunen Augen blickten hart. Die Königin hatte sich bereits für schlechte Nachrichten gewappnet. »Es ist schön, dich wieder bei Hof zu sehen.«
Die fahrende Ritterin wusste nicht, welchen Ton sie anschlagen sollte. Sie beide waren allein im Thronsaal. Früher hatten sie sich einmal sehr nahe gestanden. Aber dieser Ort verlangte nach Förmlichkeiten. Hier wurde seit Jahrhunderten über die Geschicke Albenmarks entschieden. Es war nicht der Platz, an dem zwei Freundinnen miteinander plauderten.
»Es schmerzt mich, dir keine guten Nachrichten bringen zu können, Herrin.« Obilee senkte den Kopf. Elf Tage hatte der Fürst im Reich unter den Wogen sie warten lassen, bevor er sie endlich empfangen hatte. »Eleborn wird unsere Sache nicht unterstützen. Er beharrt darauf, dass die alte Grenze gewahrt bleibt. Die Völker des Wassers haben nichts mit den Kriegen diesseits der Ufer zu schaffen, so wie wir nicht an den Kriegen jenseits der Ufer teilhaben. Die Trolle behelligen sein Reich nicht und ...« Obilee zögerte, ob sie Eleborns Beleidigung wörtlich wiederholen sollte.
Emerelles Miene blieb wie versteinert. Sie forderte sie nicht auf, weiterzusprechen, doch sie entließ sie auch nicht. Sie wartete.
»Er lässt dir ausrichten, dass du den Thron aufgeben und dich der Trollschamanin Skanga stellen solltest. Er sieht in dir und deinen Taten den wahren Grund für diesen Krieg. Er ist stur ... Er wollte nichts anderes hören.«
»Er hätte gegen sie kämpfen können.« Emerelle sprach leise, ohne Obilee anzublicken. »Jedes ihrer Schiffe liefert sich ihm aus. Jeder Troll, der eine Furt durchquert, setzt seine schmutzigen Füße in Eleborns Reich.« Die Königin straffte sich. »Du hast ihm natürlich den schriftlichen Befehl übergeben, uns Truppen zu schicken.«
»Natürlich, Herrin. Eleborn hat ihn nicht einmal gelesen.«
»Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir alles entgleitet, indem ich zu sehr darum kämpfe. Ja, vielleicht zerstört man letzten Endes das, was man um keinen Preis loslassen kann. Was glaubst du, Obilee? Hat er Recht? Würde der Krieg enden, wenn ich mich den Trollen ausliefere?« Die fahrende Ritterin wusste es nicht. Viele glaubten das, und deshalb fiel es immer schwerer, Verbündete im Kampf gegen die Trolle zu finden.
»Ganz gleich, was geschieht, Herrin, ich werde stets an deiner Seite sein.«
Emerelle seufzte. »Kannst du dir vorstellen, dass sich ein Trollkönig um die Gesetze Albenmarks schert? Würde sich ein Troll jemals als der erste Diener seines Landes begreifen? Ihre Herrschaft hieße Willkür. Die Starken würden noch stärker werden. Und die Schwachen würden sein wie welkes Laub im Herbstwind. Sie würden fortgetrieben. Ich weiß, auch ich habe meine Schwächen. Aber ich habe mich stets um Gerechtigkeit bemüht. Solange ich herrsche, wird niemand über dem Gesetz stehen. Gesetze sind wie Mauern, die einen Acker einfrieden. Sie setzen Grenzen. Sie halten das Wild fern. Sie geben die Gewissheit, dass das, was heute gilt, auch morgen noch Recht sein wird. Manche glauben, ich würde mein Volk bevorzugen. Sie irren. Wir Elfen sind stark genug, unsere Rechte mit dem Schwert in der Hand einzufordern. Erst wenn wir nicht mehr ihr lebender Schild sind, werden
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