Emil oder Ueber die Erziehung
Veranlassung zum Abschluß unserer Ehe gaben, sind verschwunden; unser Glück ist nur durch die begründet worden, welche man gar nicht in Anschlag brachte.«
»Es ist die Aufgabe derer, welche in den Ehestand treten wollen, sich einen passenden Lebensgefährten zu wählen. Gegenseitige Neigung muß das erste Band sein, welches sie verknüpft. Ihrer Augen, ihrer Herzen müssen sie sich als ihrer ersten Führer bedienen; denn da, sobald sie sich vereinigt haben, ihre höchste Pflicht darin besteht, einander zu lieben, und da es nicht von unserer Willkür abhängt, uns zu lieben oder nicht zu lieben, so zieht diese Pflicht nothwendig die andere nach sich, daß man sich schon vor der Vereinigung liebt. Das ist ein unumstößliches Naturrecht. Diejenigen, welche es durch so viele bürgerliche Gesetze eingeschränkt haben, richteten ihr Augenmerk mehr auf eine scheinbare Ordnung als auf das Eheglück und dieSittlichkeit der Bürger. Du siehst, Sophie, daß wir dir keine schwer zu erfüllende Moral predigen. Sie zielt nur darauf ab, dich zur Herrin deiner selbst zu machen, und es uns zu ermöglichen, die Wahl deines Gatten allein in deine Hand zu legen.«
»Nachdem ich dir nun unsere Gründe auseinandergesetzt habe, weshalb wir dir volle Freiheit lassen wollen, ist es auch in der Ordnung, daß ich dich auf diejenigen aufmerksam mache, von denen du dich leiten lassen mußt, um von dieser Freiheit einen weisen Gebrauch zu machen. Du bist, liebe Tochter, gut und vernünftig, zeichnest dich durch Redlichkeit und Frömmigkeit aus, besitzest die Talente, welche sittsamen Frauen geziemen, und es fehlt dir nicht an Anmuth. Allein du bist arm. Obwol du die schätzenswerthesten Güter dein eigen nennen kannst, gehen dir doch gerade diejenigen ab, welche man am höchsten schätzt. Strebe deshalb nur nach dem Erreichbaren und richte die Ziele deines Ehrgeizes nicht etwa nach deinen oder unseren Urtheilen, sondern nach der Meinung der Menschen. Wenn es sich hierbei nur um eine Gleichheit der Vorzüge handelte, so wüßte ich nicht, wozu ich deinen Hoffnungen Schranken setzen sollte. Erhebe sie indeß nicht über deine Vermögensverhältnisse und vergiß nicht, daß dich diese auf die unterste Stufe verweisen. Sollte ein Mann, der deiner würdig ist, diese Ungleichheit nicht als ein Hinderniß betrachten, so mußt du alsdann thun, was er nicht thun wird. Dann mußt du, Sophie, dem Beispiele deiner Mutter folgen und nur in eine Familie hineinheirathen, welche sich dadurch geehrt fühlt. Du bist niemals Zeuge unseres Reichthums gewesen, da du erst während unserer Armuth geboren bist. Du versüßest sie uns und theilst sie ohne Kummer. Schenke meinen Worten Glauben, Sophie, hasche nicht nach Gütern, für deren Verlust wir den Himmel, der sie uns genommen hat, aufrichtig preisen; erst nachdem wir unsern Reichthum verloren hatten, ist das Glück bei uns eingekehrt.«
»Du bist zu liebenswürdig, um Niemandem zu gefallen, und deine Dürftigkeit ist nicht derart, daß sie einem Ehrenmanne Hindernisse in den Weg legen könnte. Duwirst gesucht werden und vielleicht von Leuten, die deiner nicht werth sind. Würden sie sich dir so zeigen, wie sie in Wirklichkeit sind, so würdest du sie nach ihrem Werthe schätzen; all ihr äußerer Prunk würde dich nicht lange täuschen. Obgleich du indeß ein richtiges Urtheil hast und dich auf wahres Verdienst verstehst, so fehlt es dir doch an Erfahrung und du weißt nicht, in wie hohem Grade sich die Menschen zu verstellen vermögen. Ein gewandter Schurke kann, um dich zu bezaubern, deine Neigungen studiren und in deiner Gegenwart Tugenden heucheln, die er durchaus nicht besitzt. Ehe du dich dessen versähest, würde er dich verderben, Sophie, und du würdest deinen Irrthum nur erkennen, um ihn zu beweinen. Der gefährlichste aller Fallstricke und der einzige, dem die Vernunft nicht zu entgehen vermag, ist der der Sinnlichkeit. Solltest du je das Unglück haben, eine Beute derselben zu werden, so würdest du dich nur von Illusionen und Täuschungen umringt sehen, dein Auge würde geblendet, dein Urtheil getrübt, dein Wille irre geleitet werden, ja sogar dein Irrthum würde dir theuer sein, und wenn du endlich im Stande wärest, ihn einzusehen, würdest du nicht mehr umkehren wollen. Meine Tochter, ich überlasse dich deiner Vernunft, aber nicht dem Triebe deines Herzens. So lange dein Blut noch nicht in Wallung gerathen ist, bleibe dein eigener Richter; sobald sich aber die Liebe in dir regt, laß
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