Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
Gebetswimpel flattern über mir, und ich sehe das Sternenlicht auf der Wolkendecke, die tief unten gegen die Felsen brandet. Der Wind ist nicht stark genug, dass er dieses spezielle Wolfsgeheul erzeugt, das mich in den ersten paar Nächten hier geweckt hat, aber da er dennoch durch Felsspalten und Holzbalken und Ritzen weht, lässt er die ganze Welt um mich herum murmeln und flüstern.
Ich komme zur Treppe der Weisheit, klettere durch den Meditationspavillon der Rechten Anschauung und bleibe einen Moment auf dem Balkon stehen, um die dunklen und stummen Quartiere der Mönche zu betrachten, die allein für sich auf einem Vorsprung im Osten sitzen. Ich erkenne das grenzenlose Geschick und die Sorgfalt der Schwestern Kuku und Kay Se in den kunstvollen Schnitzereien unter meinen Fingerspitzen. Im zunehmenden Wind schlinge ich meine Jacke fester um mich und komme zur Plattform-Pagode des Rechten Denkens. An der Ostwand dieser restaurierten Pagode hat Aenea ein großes, kreisrundes Fenster entworfen, das Ausblick nach Osten bietet, zu der Mulde im Gebirgsgrat, wo das Orakel gerade seinen ersten Auftritt hat, und nun geht der Mond tatsächlich auf, seine hellen Strahlen beleuchten zuerst das Dach dieser Pagode und danach die Rückwand, wo diese Worte aus der Schrift Sutra Nipata in den Verputz der Wand geritzt sind:
Wie eine Flamme, ausgeblasen vom Wind,
sich ausruht und nicht bestimmen lässt,
so auch der Weise, befreit von Individualität,
sich ausruht und nicht bestimmen lässt.
Verschwunden jenseits aller Bilder –
verschwunden jenseits der Macht von Worten.
Ich weiß, dieser Abschnitt befasst sich mit dem rätselhaften Tod Buddhas, aber ich lese ihn im Mondschein und überlege, ob er auf Aenea oder mich oder uns beide zutreffen könnte. Er scheint nicht zuzutreffen. Im Gegensatz zu den Mönchen, die hier arbeiten, um die Erleuchtung zu erlangen, verspüre ich keinen wie auch immer gearteten Wunsch, meine Individualität zu überwinden. Die Welt selbst – alle Myriaden Welten, die ich sehen und besuchen durfte – fasziniert mich und versetzt mich in Entzücken. Ich verspüre keinen Wunsch, die Welt und meine Sinneseindrücke der Welt hinter mir zu lassen. Und ich weiß, dass Aenea ebenso über das Leben denkt – dass es wie die katholische Kommunion ist, nur ist die Welt die Hostie, und man muss sie kauen.
Aber die Vorstellung, dass die Essenz der Dinge – der Menschen – des Lebens weiter als alle Bilder und die Macht der Worte reicht, das spricht mich an. Ich habe – vergeblich versucht, nur die Essenz dieses Ortes, dieser Tage, in Worte zu kleiden, und musste feststellen, wie vergeblich es war.
Ich wende mich von der Achse der Weisheit ab, überquere die lange Plattform, wo Mahlzeiten gekocht und zubereitet werden, und wende mich den Treppen, Brücken und Plattformen der Moral-Achse zu. Das Orakel hat sich mittlerweile über den Gebirgsgrat erhoben; sein Licht und das seiner beiden Gefährten überziehen Felsgestein und Rotholz um mich herum dick mit der Farbe des Mondscheins.
Ich durchquere die Pavillons für Rechtes Reden und Rechtes Handeln und mache in der Pagode für Rechte Lebensführung eine kurze Verschnaufpause. Außerhalb der Pagode für Rechtes Streben steht ein Was-serfass aus Bambus, wo ich durstig trinke. Gebetsflaggen flattern und klatschen über den Terrassen und Erkern, während ich leise über die langen, verbundenen Plattformen zu den höchsten Gebäuden gehe.
Der Meditationspavillon für Rechte Aufmerksamkeit ist Teil von Aeneas jüngster Arbeit und riecht noch nach frischem Bonsaizedernholz. Zehn Meter höher an der steilen Leiter überragt der Tempel für Rechte Versenkung, dessen Fenster Ausblick auf die Felswand bieten, die Masse des Tempelkomplexes. Dort bleibe ich mehrere Minuten stehen und stelle zum ersten Mal fest, dass der Schatten der Pagode selbst auf die Felswand fällt, wenn der Mond aufgeht, so wie jetzt, und Aenea das Dach des Pavillons so konstruiert hat, dass sein Schatten mit den natürlichen Klüften und Verfärbungen des Gesteins verschmilzt und den Schatten eines Schriftzeichens bildet, in dem ich das chinesische Schriftzeichen für Buddha erkenne.
In diesem Augenblick überkommt mich ein Frösteln, obwohl der Wind nicht heftiger weht als bisher. Gänsehaut überzieht meine Unterarme, und mein Nacken fühlt sich kalt an. Ich erkenne – nein, sehe – in diesem Augenblick, dass Aeneas Mission, wie immer sie aussehen mag, zum Scheitern verurteilt ist. Sie
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