Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
und der Zimmermann Changchi Kenchung hinter mir sich daranmacht, den Holzboden der Terrasse selbst anzulegen. Nichts würde die Hochgerüstbauer und mich auffangen, sollten wir von den Holzbalken stürzen, wenn nicht Lhomo gestern seine Übung im Freeclimbing gemacht und gespannte Seile und Kabel befestigt hätte. Wenn wir jetzt von Balken zu Balken springen, klinken wir einfach einen Karabinerhaken unseres Harnischs am nächsten Seil ein. Ich bin schon einmal abgestürzt, und mein Fall wurde von so einem gespannten Seil aufgehalten: Es kann das Fünffache meines Gewichts halten.
Nun springe ich von Balken zu Balken und ziehe dabei den nächsten Balken mit, der an einem der Kabel baumelt. Wind kommt auf und droht, mich ins Leere zu wehen, aber ich balanciere mit einer Hand an dem hängenden Balken und drei Fingern an der Felswand selbst. Ich komme ans Ende des dritten gespannten Seils, öffne den Karabinerhaken und schicke mich an, ihn am vierten von sieben Seilen einzuklinken, die Lhomo gespannt hat.
Ich weiß nicht, was ich von letzter Nacht halten soll. Das heißt, ich weiß, wie ich mich fühle – überschwänglich, verwirrt, ekstatisch, verliebt –, weiß aber nicht, wie ich darüber denken soll. Ich hatte versucht, Aenea vor dem Frühstück im gemeinschaftlichen Speisesaal bei den Unterkünften der Mönche zu sprechen, aber sie hatte schon gegessen und war auf dem Weg zum neuen östlichen Laufweg, wo die Terrassenschnitzer Probleme hatten.
Dann waren A. Bettik, George Tsarong und Jigme Norbu mit den Trägern aufgekreuzt, und es dauerte eine Stunde, bis das Material sortiert und die Balken, Beitel, Bretter und alles andere zu den neuen Hochgerüsten geschafft waren. Ich war auf dem östlichen Sims entlanggegangen, bevor die Arbeit an den Balken begann, aber A. Bettik und Tsipon Shakabpa waren im Gespräch mit Aenea, daher joggte ich zum Gerüst zurück und machte mich an die Arbeit.
Nun springe ich auf den letzten heute Vormittag befestigten Balken und bin bereit, den nächsten in dem Loch zu verankern, das Haruyuki und Kenshiro mit winzigen gezielten Ladungen in den Fels gesprengt haben.
Danach werden Voytek und Viki den Pfosten einzementieren. In dreißig Minuten wird er fest genug sein, dass Changchi eine Arbeitsplattform darauf errichten kann. Ich habe mich daran gewöhnt, von Balken zu Balken zu springen, das Gleichgewicht zu wahren und in die Hocke zu gehen, um den nächsten Balken anzubringen, und genau das tue ich jetzt auf dem letzten Balken, rudere mit dem linken Arm, um die Balance zu halten, und berühre den Balken, der an seinem Kabel hängt, dabei mit den Fingern.
Plötzlich schwingt der Balken zu weit von mir weg, und ich verliere das Gleichgewicht und hänge über dem Nichts. Ich weiß, dass mich die Sicherungsleine halten wird, hasse es aber, zu fallen und zwischen dem letzten Balken und dem neu gebohrten Loch zu baumeln. Wenn ich nicht genü-
gend Schwung habe, um mich zu dem Balken zurück abzustoßen, muss ich warten, dass Kenshiro oder einer der anderen Gerüstbauer mich retten kommt.
Innerhalb eines Sekundenbruchteils entscheide ich mich und springe, bekomme den schwingenden Balken zu fassen und schlage heftig mit dem Fuß aus. Da die Sicherheitsleine mehrere Meter Spiel hat, bis sie mich fängt, ist jetzt mein gesamtes Gewicht auf die Finger verlagert. Der Balken ist so dick, dass ich keinen guten Halt finde, und ich kann spüren, wie meine Finger auf dem harten Holz abrutschen. Aber anstatt mich zum elastischen Ende meiner gespannten Leine fallen zu lassen, bemühe ich mich, den Halt nicht zu verlieren, und es gelingt mir, den schweren Pfosten zum letzten befestigten Balken zurückzuschwingen, ich springe die letzten zwei Meter, lande auf dem rutschigen Balken und rudere mit den Armen, um die Balance zu halten. Ich lache über meine eigene Torheit, erlange das Gleichgewicht wieder, bleibe einen Moment keuchend stehen und betrachte die Wolken, die mehrere tausend Meter unter meinen Füßen an den Fels brodeln.
Changchi Kenchung springt von Balken zu Balken auf mich zu und klinkt sich mit rasender Geschwindigkeit an den gespannten Seilen ein. So etwas wie Entsetzen steht in seinen Augen, und einen Augenblick bin ich überzeugt, dass Aenea etwas zugestoßen ist. Mein Herz schlägt so heftig, die Angst überkommt mich so plötzlich, dass ich fast das Gleichgewicht verliere. Aber ich fange mich wieder, stehe auf dem letzten festen Balken und warte mit einem Gefühl großer Furcht
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