Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
lodern, während hinter und über Drepung sich mit goldenen Dächern, die die brodelnde Wolkendecke berühren, Potala – der Winterpalast des Dalai Lama – erhebt, der hell erleuchtet ist und selbst in dieser stürmischen Dunkelheit von den blitzumtosten Gipfeln des Koko Nor seinerseits beleuchtet wird.
Die Begleiter und Mitreisenden kehren hier um, und nur wir geladenen Pilger ziehen weiter in die verbotene Stadt.
Der Hochweg wird flacher und erweitert sich zu einer wahren Straße, einem fünfzig Meter breiten Boulevard, mit goldenen Steinen gepflastert, von Fackeln gesäumt und von zahllosen Tempeln, chorten, kleineren Gompas, Nebengebäuden des imposanten Klosters und militärischen Wachtposten umgeben. Der Regen hat aufgehört, aber die Prachtstraße funkelt golden, während Hunderte und Aberhunderte farbenfroh gekleideter Pilger und Bewohner der verbotenen Stadt vor den riesigen Mauern von Drepung und Potala auf und ab flanieren. Mönche in safrangelben Gewändern gehen in kleinen Gruppen einher; Palastangestellte in leuchtend roten und tiefpurpurfarbenen Roben und gelben Hüten, die wie umgekehrte Untertassen aussehen, laufen zielstrebig zwischen Soldaten in blauen Uniformen mit schwarzweiß gestreiften Piken hindurch; offizielle Boten laufen in hautengen Anzügen in Orange und Rot oder Gold und Blau an uns vorbei; Frauen des Hofs huschen in langen Seidenkleidern in Himmelblau, Lapislazuli und einem dunklen Kobaltblau vorüber, ihre Schleppen erzeugen ein leises Rascheln auf dem nassen Pflaster; Priester von der Sekte Roter Hut kann man auf den ersten Blick an ihren verkehrten Untertassenhüten aus karmesinroter Seide mit karmesinroten Fransen erkennen, während die Drungpas – die Bewohner der bewaldeten Täler –
mit Pelzmützen aus Zygeißenfell und Kostümen vorbeischlendern, die mit leuchtenden weißen, roten, braunen und goldenen Federn geschmückt sind, und ihre großen zeremoniellen Schwerter aus Gold in den Scheiden tragen; zuletzt das einfache Volk der Verbotenen Stadt, das nicht weniger farbenfroh als die hohen Beamten ist: Köche und Gärtner und Lehrer und Steinmetze und Kammerdiener, alle in Seiden -Chubas in Grün und Blau oder Gold und Orange, diejenigen, die die Arbeit in den Quartieren des Dalai Lama im Winterpalast erledigen – mehrere tausend an der Zahl –, die man zwischen dem Karmesinrot und Gold erkennen kann, alle mit Seidenhüten mit Zygeißenband und fünfzig Zentimeter breiten steifen Krempen, damit sie an sonnigen Tagen ihre blasse Palastfarbe bewahren und während der Monsunzeit vor dem Regen geschützt sind.
In dieser Umgebung sieht unsere durchnässte Pilgergruppe traurig und schäbig aus, aber ich verschwende kaum einen Gedanken an unser Äußeres, als wir ein sechzig Meter hohes Tor in einer der Außenmauern des Klosters Drepung passieren und die Kyi-Chu-Brücke überqueren.
Diese Brücke ist zwanzig Meter breit, einhundertfünfzehn Meter lang und besteht aus modernstem Kohlenstoffplastahl. Sie glänzt wie schwarzes Chrom. Darunter ist... nichts. Die Brücke überspannt einen tödlichen Abgrund im Gebirgszug, es sind Tausende Meter bis zu den Phosgenwolken tief unten. Auf der Ostseite – der Seite, von der wir uns nähern – ragen die Bauwerke von Drepung zwei oder drei Kilometer empor, konturlose Wände und erleuchtete Fenster, und die Luft über uns ist von den verschiedenen spinnennetzartigen Ebenen der offiziellen Kabel-abkürzungen zwischen dem Kloster und dem Palastgelände durchzogen.
Auf der Westseite – vor uns erhebt sich Potala mehr als sechs Kilometer an der Felswand; Tausende Steinfacetten und Hunderte goldene Dächer reflektieren die zuckenden Blitze von den tief hängenden Wolken darüber.
Im Fall eines Angriffs kann die Kyi-Chu-Brücke in weniger als dreißig Sekunden in die westliche Felswand eingezogen werden, zurück bleibt weder eine Treppe noch ein Halt, weder ein Sims noch ein Fenster, und das über einen halben Kilometer vertikalen Fels bis zu den ersten Festungsanlagen oben.
Die Brücke wird nicht eingezogen, als wir sie überqueren. Soldaten in zeremoniellen Gewändern säumen die Seiten, jeder mit einem tödlich wirkenden Spieß oder einem Energiegewehr bewaffnet. Am anderen Ende der Kyi Chu machen wir eine Pause am Pargo Kaling – dem Westlichen Tor –, einem verzierten, fünfundachtzig Meter hohen Bogen. Lichter erstrahlen in dem gigantischen Bogen und strahlen aus tausend komplexen Mustern heraus; das hellste Leuchten kommt aus
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