Entbrannt
Schatten sah. Jeder Mensch war eingehüllt von dichten, bösartigen Schatten, die von fast ölig-glitschiger Beschaffenheit waren und die bestätigten, dass ihr Wille von einem Verbannten verunreinigt war. Ich schauderte.
Links von Lilith entdeckte ich endlich Evelyn. Sie war mit silbernen Ketten gefesselt, auf beiden Seiten von ihr standen Verbannte, die sie festhielten. Sie war schlimm verprügelt worden, nur ihre Augen waren unversehrt. Mein Zorn kochte hoch, und ich konnte ihn erst beherrschen, als sich unsere Blicke trafen. Evelyns Körper mochte unter den Strapazen zusammengesackt sein, doch ihre Augen waren so glühend wie immer, als sie ihren Blick auf mich richtete. Ich brauchte kein Seelenband, um die Liebe zu spüren, die sie mir sandte.
Ich schaute weg, sonst wäre ich zusammengebrochen.
Endlich ließ ich meinen Blick zu der Stelle wandern, die ich absichtlich vermieden hatte, seit ich in den Raum gekommen war. Rechts von Lilith war Lincoln angekettet. Er stand aufrecht und furchtlos da, obwohl auch er, genau wie Evelyn, heftig geschlagen worden war. Dem Winkel nach zu urteilen, in dem er seinen Arm hielt, war seine Schulter vermutlich wieder ausgekugelt. Trotzdem war seine Stärke so überwältigend, dass ich mich dabei ertappte, wie ich ihn kurz anlächelte. Er nickte mir kurz zu, als sei das genau die richtige Einstellung.
Der Ballsaal war angefüllt mit Zuschauern. Ich schob meine Sinne nach außen und stellte fest, dass die Verbannten der Finsternis definitiv in der Überzahl waren. Jetzt wo Lilith das Kommando hatte und Phoenix als ihr Stellvertreter angesehen wurde, fragte ich mich, ob die Verbannten des Lichts ihren Waffenstillstand mit den Verbannten der Finsternis wirklich fortsetzen wollten. Ich malte mir aus, wie sie bald zu ihren alten Gewohnheiten zurückfinden und sich gegenseitig bekämpfen würden.
Der Mann, der auf der anderen Seite von Liliths Thron stand, erregte meine Aufmerksamkeit. Er schien nicht hierher zu gehören. Er war klein und unscheinbar, hatte eine Glatze und trug eine Brille mit Drahtgestell. Er hatte einen konservativen grauen Anzug an und eine cremefarbene Krawatte. In der Hand hatte er eine Aktentasche, seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert– ich konnte ihn überhaupt nicht einordnen. Er war ganz sicher ein Verbannter, was schon seltsam genug war– ich hatte noch nie einen gesehen, der so… durchschnittlich aussah, normalerweise sahen Verbannte aus wie Männermodels.
Er erwiderte meinen Blick, in seinem Gesicht zeichnete sich nichts als ein Hauch von Neugier ab. Die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf.
Irgendetwas an ihm stimmt absolut nicht.
Die Trommeln wurden unerbittlich weitergeschlagen, und Verbannte begannen, im Rhythmus der Trommeln auf mich zuzukommen. Einer nach dem anderen rückte näher und streckte seine Kraft nach mir aus. Sie vereinten ihre Kräfte. Ich wusste nicht, was sie vorhatten, aber mein Herz begann vor böser Vorahnung zu hämmern.
Sie wollen, dass ich Angst bekomme.
Sei stark. Bleib stark.
Nacheinander verwandelten sich die Verbannten in ein Wesen ihrer Wahl. Erst stieß etwas Fledermausartiges auf mich herunter. Dann strich etwas mit großen Klauen so nah an mir vorbei, dass ich spürte, wie es meinen Arm streifte. Ein weiterer kam, er sah aus wie ein Wasserspeier, dann noch einer, ein Drache. Sie waren gnadenlos. Ein gehörnter Teufel, bedeckt mit orangefarbenem Feuer, ein Wesen aus blendendem weißem Licht mit einer gigantischen, furchterregenden Spannweite, lichterloh brennend, ein Vampir, eine menschliche Schlange, ein märchenhafter Geier… Alle waren sie direkt neben, hinter und über mir!
Ich kann nicht atmen!
Sie umgaben mich, drangen in meine Gedanken– flüsternd und spottend. Immer mehr kamen– Wesen von heimtückischer Finsternis oder hellstem Licht, was nicht weniger Furcht einflößend war. Keines von ihnen war für das menschliche Auge, keines für diese Welt gedacht.
Mein Atem ging flach und schnell, und der Schrecken fing an, mich aufzufressen, da sie meine Gedanken an sich rissen. Sie würden nicht aufhören.
Ich zwang meinen Kopf dazu, für mich zu arbeiten, und rief meine Kraft. Sie floss aus mir heraus und durch den Saal. Die Verbannten fauchten und kamen näher, sie flohen nie vor Angst, auch wenn sie spürten, wie sich meine Kraft aufbaute.
Ich setzte meine Kraft dazu ein, meinen Willen freizusetzen und dem Saal wieder sein wahres Aussehen zu verleihen. Die Verbannten nahmen wieder ihre
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