Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin pro Team und Jahr auf etwa 500000 Euro. Das heißt, dass gerade mal 13 Millionen Euro notwendig wären, um alle sterbenden Kinder am Lebensende zuhause versorgen zu können. Das sind etwa 0,007 Prozent der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen 96 . Obwohl die Gesetzlichen Krankenkassen allein in den ersten drei Quartalen 2012 einen Überschuss von mehr als vier Milliarden Euro erzielten 97 , scheint man bei der Versorgung sterbender Kinder also lieber sparen zu wollen. Trotzdem bleiben die Kassen bei ihrer Argumentation, für die Ausgestaltung der Verträge und für die Überweisung der Versorgungsgelder fehle bei den Teams das entsprechende Knowhow.
Wer hilft, dem droht Gefängnis
Palliativmediziner Thomas Sitte hat Petra Weber bis zu ihrem Tod im Kreis ihrer Familie begleitet. Ehrenamtlich. Fast zweieinhalb Jahre lang war er rund um die Uhr für sie da. Immer wenn sie ihn brauchte. Und sie brauchte ihn und die Mitglieder ihres Teams sehr oft. Trotzdem hat er bis zu ihrem Tod nicht einen Cent für die Versorgung bekommen.
Aber Thomas Sitte musste seine Patienten nicht nur versorgen, ohne dafür Geld zu bekommen, und die ambulante Versorgung mit den Einnahmen aus seiner Praxis querfinanzieren. Er drohte für diese Versorgung auch noch ins Gefängnis zu kommen. Schuld war eine Bestimmung in der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung.
Der Arzt hatte immer wieder Schmerzmittel bei Petra Weber gelassen, nachts, am Wochenende und an Feiertagen, damit sie zur Überbrückung gegen die größten Schmerzen etwas nehmen konnte, bis die nächste Apotheke die Medikamente wieder liefern konnte. Damit soll er gegen einen kleinen Passus in der Verordnung verstoßen haben. Denn danach durfte man die Medikamente zwar verschreiben und dem Patienten verabreichen, man durfte sie aber nicht bei ihm lassen. Auch nicht, wenn die Schmerzen unerträglich waren. Nur Apotheker durften verschreibungspflichtige Medikamente aushändigen. Und genau die sperrten sich vehement gegen jede Änderung der Verordnung, die ihnen die Hoheit über die Medikamenten-Gabe nehmen könnte. Eine Ausnahme hatten sie bereits akzeptieren müssen: die Abgabe von Methadon zur Drogensubstitution. Bei Opiaten für todkranke Patienten wollten die Apotheker keine weitere Ausnahme akzeptieren, ungeachtet der Folgen für die Patienten. Kein Wunder, denn das Geschäft mit diesen Arzneimitteln ist gigantisch. Im Jahr 2011 betrug der Umsatz mit verschreibungspflichtigen Medikamenten in Apotheken immerhin 21,6 Millarden Euro 98 .
Ende 2011 wurde Thomas Sitte unter Androhung einer Haftstrafe bei Zuwiderhandlung untersagt, zukünftig Medikamente bei seinen Patienten zu lassen. Ihm drohten fünf Jahre Gefängnis. Den Arzt traf es wie ein Schock. Jahrelang hatte er sich um seine Patienten bemüht, hatte an Wochenenden Weiterbildungen besucht oder gehalten, hatte anderen Teams bei der Aufbauarbeit geholfen, seine Erfahrungen geteilt. Ein unermüdlicher Kämpfer. Auch seine Familie kam dabei häufig zu kurz. Er hatte erklären müssen, warum er am Wochenende, in der Nacht, bei Abendessen und Theaterbesuchen erreichbar sein musste und immer auf dem Sprung. Er hatte erklären müssen, dass seine Patienten für ihn immer Vorrang hatten, und das, ohne für diese Zusatzversorgung bezahlt zu werden. Und nun sah sich der Arzt von der Gesetzgebung kriminalisiert und in seiner Arbeit für die Patienten eklatant eingeschränkt. Und mit ihm viele seiner Kollegen. Wer sollte noch die Arbeit des Palliativmediziners übernehmen, wenn er sich dabei mit einem Bein im Gefängnis sieht?
Weil Thomas Sitte es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte, Patienten die Medikamente vorzuenthalten, von denen er wusste, dass sie ihnen die mitunter unerträglichen Schmerzen nehmen konnten, gab er seine Praxis auf. Er wusste, ansonsten hätte er regelmäßig gegen die ihm gemachten Auflagen verstoßen, und dieser Gefahr wollte er weder sich noch seine Familie aussetzen. Sitte gründete die Deutsche Palliativstiftung. Mit ihr konzentrierte er sich darauf, politisch dafür zu kämpfen, dass die Versorgung bei den Patienten, die sie brauchen, auch ankommt.
Im Mai 2011 wurde schließlich, nach einiger Medienberichterstattung und viel Protest durch die Palliativmediziner, die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung geändert. Bis dahin hielt die Gegenwehr der Apothekerverbände. Bitteres Fazit: Die Umsetzung der Spezialisierten Ambulanten
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