Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Berufstätigkeit vor? Oder Sie können keine haben? Vielleicht mögen Sie auch ganz einfach keine Kinder? Oder es gibt keinen Kerl, der sie Ihnen macht? Oder …« – sie hob eine Braue – »könnte es sein, dass Sie nicht auf Männer stehen?«
Madeleine wandte ihr wieder den Blick zu. Sie schüttelte den Kopf und schluckte mehrfach. Zu Rachels Entsetzen glänzten ihre Augen tränenfeucht, als würde sie gleich weinen. Rachel verfluchte sich. Scheiße! Das brauchte sie jetzt nicht. Madeleine öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam kein Ton heraus. Sie hustete und versuchte es erneut.
»Ich halte es nicht für passend, darüber zu sprechen«, sagte sie schließlich.
»Ja, Sie haben recht. Tut mir leid«, nickte Rachel und beugte sich zu ihrer Tasche. »Können wir hier einfach aufhören? Ich muss jetzt unbedingt eine rauchen.«
4. Kapitel
D ie Sitzung ist wohl nicht so gut gelaufen?«, fragte Sylvia, als Madeleine in den leeren Warteraum kam.
»Wie meinen Sie das?«
»Ihre Patientin ist schon nach neununddreißig Minuten gegangen.«
»Na, da bin ich aber froh, dass Sie immer alles ganz genau verfolgen«, erwiderte Madeleine, verdrossen über Sylvias Angewohnheit, zu allem ungebeten ihre Kommentare abzugeben.
So sehr sich Sylvia auch um Zurückhaltung bemühte, die archetypische Urmutter in ihr konnte sie nicht unterdrücken. Sie bot Patienten nicht nur vegane Snacks und Ratschläge in Gesundheitsfragen an; Madeleine hatte sie auch dabei erwischt, wie sie diese anhand einer astrologischen Tabelle beriet, die sie unter ihrem Posteingangskorb verwahrte. Madeleine hatte dem ein Ende gesetzt, aber sie hatte den Verdacht, dass die Leute in Wirklichkeit kamen, um die allwissende Sylvia zu besuchen.
»Und sie sah verärgert aus«, fügte Sylvia hinzu.
Madeleine zuckte zusammen. Was für ein verkorkstes Sitzungsende. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass Rachel sie auszuhorchen versuchte. Und dann musste ihr auch noch das Wasser in die Augen steigen! Rachel hingegen hatte noch keine einzige Träne vergossen. Kein Wunder, dass sie die Flucht ergriffen und Madeleines unbeholfenen Versuch, sie aufzuhalten, mit der Behauptung abgewehrt hatte, sie könne es keinen Augenblick mehr ohne Zigarette aushalten. Diese Zigarette war Rachel teuer zu stehen gekommen, aber das war ihre Sache; es war ihr Geld. Und obwohl Rachel dem nächsten Termin zugestimmt hatte, fürchtete Madeleine, dass sie diesmal nicht wiederkommen werde.
Es gab da etwas, mit dem sich Rachel befassen musste und wollte, aber sie gestattete es sich nicht. Möglicherweise war es der Krebstod ihrer Mutter, vielleicht auch ein früheres Ereignis. Sie wollte ihren Sohn unbedingt beschützen, aber die Therapie brachte sie zu nahe an den Kern der Sache, und Rachel wusste sicherlich, dass sie ihre Gefühle nicht für immer verdrängen konnte. Sie würde ihr verletzliches Ich, das Schaden genommen hatte, mehr an die Oberfläche holen müssen, damit sie sich damit befassen konnten. Diesen Weg zu beschreiten, erforderte Stärke und Willenskraft, und wenn man dann auch noch dafür Geld hinlegen musste, konnte man durchaus das Gefühl haben, als würde man für den erlittenen Schaden zusätzlich noch verspottet werden.
Madeleine holte ihr Auto vom Parkplatz an der Pierrepont Street und bezahlte die Wuchergebühr an den übellaunigen Betreiber. Sie umging den Berufsverkehr, indem sie auf Schleichwegen aus der Stadt fuhr. Dazu folgte sie schmalen, von hohen Häusern gesäumten Straßen, die dann und wann über entlegene Plätze vor imposanten palladischen Villen führten, wo Durchgangsverkehr mit einen Stirnrunzeln quittiert wurde, aber nicht ausdrücklich verboten war. Schon bald fuhr sie auf einer Landstraße steil bergan. Die Luft wurde klar, sobald der städtische Trubel hinter ihr zurückblieb. Sie ließ das Fenster herunter und atmete tief durch. Wo sonst auf der Welt konnte man eine Minute, nachdem man das Zentrum einer Stadt verlassen hatte, saftige Wiesen mit Frühlingsblumen oder Weiden sehen, auf denen Kühe und Schafe grasten?
Als sie sich ihrem Ziel näherte, umklammerte sie das Steuer fester. Zwar liebte und verehrte Madeleine ihre Mutter, doch waren die Besuche, die sie ihr zweimal in der Woche abstattete, je nach Stimmung belastend für sie. Madeleine wusste, dass man ihr keine Schuld geben konnte, aber es drückte ihr Gewissen, dass ihre Mutter ihr Leben in diesem kalten, nassen Land beenden sollte und nicht in dem wunderschönen Key West
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