Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
hierüber stritten, hatte Mama bereits nach einer Curandera geschickt. Die schwarze Wunderheilerin namens Esperanza war im Nu da und brachte Gefäße und mit Kräutern gefüllte Körbe mit. Diese verbrannte sie und fächelte den beißenden Rauch über Madeleine, wobei sie mit Bündeln frischer Kräuter über ihren nackten Körper strich und sie mit Florida Water wusch. So schlagartig, wie ihr Erbrechen begonnen hatte, hörte es wieder auf.
Kurz darauf erfuhr Madeleine, dass der alte Mann gestorben war. Die Leute erzählten sich flüsternd, sein Tod sei qualvoll gewesen. Obwohl ihr nun von ihm keine Gefahr mehr drohte, betrat sie die Cherry Lane nie wieder.
***
Hinter den Wäldern um Setton Hall ging die Sonne unter. Bald würden die Heiminsassen nacheinander eingesammelt werden, man würde ihnen ihre Medikamente geben und sie dann für zehn Stunden traumlosen Vergessens sicher in ihre luxuriösen Zimmer verstauen. Die meisten von ihnen schienen bereits zu schlafen. Das Gekreisch der Leute in dem geistlosen Fernsehprogramm klang in der bedrückenden Atmosphäre noch schauriger als gewöhnlich. Madeleine sah eine Weile zu, doch als sie sich zu Rosaria wenden wollte, um sich über die geistige Beschränktheit der Beteiligten auszulassen, die sich freiwillig sinnlos demütigen ließen, war diese in sich zusammengesackt und schlief tief und fest. Die Aufregung wegen Madeleines Brosche hatte sie völlig erschöpft. Rhythmisch bewegte sich ihr Gebiss im Mund hin und her.
Madeleine betrachtete Rosarias Gesicht, und eine tiefe Traurigkeit überkam sie. Ihre schöne Mutter, so zerstört, so hilflos … Wenn es ihr doch nur möglich gewesen wäre, sie bei sich zu Hause zu betreuen. Aber Rosaria konnte nicht unbeaufsichtigt bleiben, noch nicht einmal für eine Stunde. Sie war ohne weiteres imstande, etwas in Brand zu stecken oder die Katze des Nachbarn ihren Orischas zu opfern. Und andere Möglichkeiten unterzukommen hatte sie nicht. Es war kein weiteres Kind vorhanden, und es gab keine Verwandtschaft und auch keine Freunde, mit denen sich Madeleine die Last der Pflege hätte teilen können. Und Neville war auf Distanz gegangen, nachdem es ihm glücklich gelungen war, sie einzusperren. Gerissen und selbstsüchtig zog er sich hinter der Behauptung zurück, er sei nicht länger für sie verantwortlich. War nicht Madeleine als Psychotherapeutin geradezu prädestiniert dafür, sich um die übergeschnappte alte Hexe zu kümmern?
Mit einem Stapel Papiertaschentücher tupfte Madeleine den verschütteten Rum vom Teppich auf. Rosaria schlief immer noch fest, und schließlich fand Madeleine, dass sie genauso gut gehen konnte. Sie strich über die Hand ihrer Mutter und küsste ihre Stirn, aber diese zeigte keinerlei Reaktion. Selbst ihr Mund war schließlich erschlafft und stand offen. Aber gerade als sie sich wegdrehte, um auf Zehenspitzen fortzugehen, streckte Rosaria die Hand nach ihr aus, um sie aufzuhalten.
»Was ist, Mama?«
»Du hast nicht befolgt, was ich dir am Telefon gesagt habe. Du bist nicht nach Hause gegangen und hast die Türen abgeschlossen. Darum wirst du jetzt einen Tod auf deinem Gewissen haben, Magdalena.«
Madeleine blieb wartend stehen und sah ihre Mutter an. Deren Stimme war zwar leise, aber unmissverständlich klar und deutlich gewesen. Doch ihre Augen waren noch immer geschlossen, als schliefe sie.
»Du wirst noch nicht sterben, Mama«, meinte Madeleine beschwichtigend. »Noch lange nicht. Du bist noch immer jung.«
»Ein verwesender Leichnam«, stammelte Rosaria. »Feuer!«
»Was, Mama?« Madeleine schüttelte sie leicht am Arm. »Komm, Mama, wach auf.«
Rosarias Hände begannen zu zittern, und ihre Stimme stockte. Sie stotterte und bemühte sich mit aller Kraft zu sprechen. »Magdalena, deine Welt wird sich von Grund auf ändern. Du musst mich verlassen. Lauf weg … so weit … so weit wie du kannst.«
Madeleine ging in die Hocke, stützte sich auf ein Knie und drückte Rosaria an sich. »Ich werde dich nie verlassen, Mama. Nie! Mach dir keine Sorgen.« Aber Rosaria hörte sie nicht. Wieder schien sie fest zu schlafen, fast wie im Koma. Madeleine fror. »Ich komme bald wieder, Mama«, sagte sie leise, stand auf und eilte hinaus.
Im Schwesternzimmer war niemand, und sie rannte fast den Flur entlang. Sie verzichtete darauf, den Fahrstuhl zu nehmen, und ihre Schritte hallten im Treppenhaus wider, als sie die spiralförmig angeordneten Marmorstufen hinunterlief. Im Erdgeschoss traf sie die
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